Beschreibung der Stadt Schweinfurt im Jahre 1836

von Leonhard Enderlein - Gymnasiallehrer in Schweinfurt -

Eine subjektive Betrachtung, nicht immer schmeichelhaft für Schweinfurt

Es war ein nasskalter Novembermorgen des Jahres 1836, als ich zum ersten Mal in Schweinfurt erwachte.

Zwischen meiner Wohnung (im Bereich des heutigen Friedrich-Rückert-Baus) und der gegenüberliegenden Kirche (St. Johannis) war ein freier Platz, ungepflastert mit vielen Kotlachen; die Kirche imponierte mir weder durch Größe noch durch architektonischen Wert. Der erste Eindruck, den auch weitere Gänge auf mich machten, war bei dem kimmerschen (=düsteren) Himmel kein sehr günstiger. Will ich also bei der Beschreibung der Stadt Schweinfurt 1836 nicht unbillig sein, so muss ich etwa 6 Monate zurückgehen und sie und ihre Umgebung im Frühlingsschmuck betrachten. Durchwandere ich da die Straßen, besonders die Nebengassen, so erscheint Schweinfurt als eine belebte freundliche Landstadt. Die hohen Häuser der größeren Städte fehlen ganz; nur der Markt und ein paar Hauptstraßen haben dreistöckige Häuser. Massiver Steinbau findet sich fast nur an Kirchen, Rathaus, Toren, Zeughaus, und einige Neubauten (Schule, Gericht, Harmonie, 5 Häuser vor dem Spitaltor und die 2 Zuckerraffinerien), sonst dünne Riegelwände (= Fachwerkwände); die Hinterseiten der Häuser, das Innere der Häuserkomplexe ist hässliches Holzhauswerk. Das Straßenpflaster ist nur in der Kirchgasse und in der Petersgasse neu und gut; erstere ist der Kirchweg der bürgermeisterlichen Familie, letztere führt zum Huttichsturm (Schrotturm), der Wohnung des einflußreichen Herrn Magistratsrat Friedrich Voit. In den übrigen Nebengassen, so wie in den Hauptstraßen selbst, ist das Pflaster ganz unglaublich schlecht;..... Man hilft sich durch "Verzwicken" und Einstampfen von Sand. Dabei ist Nachts die Straßenbeleuchtung noch höchst sporadisch, etwa 80 Öllampen in der ganzen Stadt, nur im Winter in mondlosen Nächten brennend....

Schweinfurt im Jahre 1836 - Ansicht von Süden (Mittagsseite) von Andres Friedrich Kornacher
Schweinfurt im Jahre 1836 - Ansicht von Süden (Mittagsseite) von Andres Friedrich Kornacher

Verlassen wir die Stadt, um uns die Umgebung zu betrachten, so suche ich zunächst den Weg zum Main durch die Brückengasse (heute: Brückenstraße). Am Ende derselben stand vor kurzem (bis 1832) ein Tor (Brückentor), an das sich rechts die Brückenschmiede und die Frohnveste (=Gefängnis) lehnte. Gleich neben letzterer steigt man etwa 20 Treppen hinunter und steht dann im dunklen Vorraum der großen städtischen Mühle, früher als ein Meisterwerk in weiteren Kreisen bekannt, jetzt ein ausgebrauchter Klapperkasten, dessen Produkt den Anforderungen der Zeit nicht mehr genügt;..... Kehre ich aus diesem dunklen Raum wieder herauf zur Mainbrücke, so finde ich dieselbe besetzt von einer schaulustigen Menge. Gerade wird ein Rangschiff durchs "Loch" gezogen.

Loch heißt nämlich der Wasserdurchlass zwischen dem Grundablass und dem Schnurgerinne des Mühlwerks. Etwa 60 Mann auf den beiden Dämmen am Loch, dazu Pferde am Bretterhaus und auf dem Böcklein ziehen das Schiff an Seilen der Strömung entgegen; 4-6 Stunden dauert die Arbeit, etwa 70 - 80 Gulden betragen die Kosten, denn da beim Öffnen des Loches der Mühle Wasser entgeht, so muss an die Stadt auch eine "Lochgebühr" bezahlt werden.

Ich kehre nun zurück und schlage mich von da am eben fertig gewordenen Harmoniegebäude vorbei durchs Pfandhaus auf den Zwinger und gehe von da den Wall entlang um einen Anblick von überraschender Lieblichkeit zu geniessen. Die Teilberge, das ganze Marienbachtal bis ans Mainufer und bis zur Peterstirne, der Stadtgraben und die Schanzen zu Füßen lauter Gärten und Gärtchen von einander gesondert durch Buchenhecken von einer Dichtigkeit, wie ich sie sonst nirgends gesehen; die Gärten selbst in mannichfaltiger Weise angelegt, zur Blütenzeit, deren Pracht Fremde zu mehrtägigem Aufenthalt herbeizieht.....

Nur in einem Garten, Dekans-Endres-Schanze genannt, befindet sich eine elegante Villa, nach Klenzers Plan gebaut (Anm: Leo von Klanze (1784 - 1864) von 1804 bis 1813 Hofarchitekt von Jerome Bonaparte, seit 1816 Hofarchitekt König Ludwig I.in München). In den übrigen Gärten des Teilbergs und des Marientals zähle ich nicht mehr als 11 kleine Gartenhäuslein, kaum mehr als Aufbewahrungsplätze für Gartengerät und Unterschlupf bei plötzlichem Regen....

Radierung von 1840 vom Marienbachtal - Blick vom Oberen Wall (v. Johann Conrad Ochlich) Die hier auch zu sehende Zuckerfabrik wurde 1836 gegründet; ganz links ein Teil der Villa Endres
Radierung von 1840 vom Marienbachtal - Blick vom Oberen Wall (v. Johann Conrad Ochlich) Die hier auch zu sehende Zuckerfabrik wurde 1836 gegründet; ganz links ein Teil der Villa Endres

Der Raum vor dem obern Tor (Obertor) ist noch unangebaut, eben so wie die Plätze am Mühltor links und rechts; am letzteren liegen kleine Teiche, als Entenpfuhl dienend; der Raum links vor dem Obertor ist Ablagerung von Seifensiederabfällen und dient den Ökonomen (städt. Bauern) als Platz für den langwierigen Koitus der Schweinsbären (= Zuchteber). Vergeblich bemüht sich daher Bürgermeister Kirch, diesen kahlen Eingang zur Stadt mit Anlagen zu schmücken. Die Bauern bestehen auf der Notwendigkeit des Platzes für ihren Zweck.

Ansicht 1836 von Norden (Mitternachtseite) mit Obertor - von Andreas Friedrich Kornacher
Ansicht 1836 von Norden (Mitternachtseite) mit Obertor - von Andreas Friedrich Kornacher

Der Weg von da zum Spitaltor führt an lauter in Gärten verwandelten Stadtgräben vorüber, auch sie mit schönen Buchenhecken eingefasst, im Frühling eine seltene Blütenpracht.  .... Vor dem Spitaltor selbst steht links unten am Main eine unbedeutende Ziegelei, zwischen dieser und der Straße ist ein Zimmerplatz und weiter hin Floßholz- und Holländerholzlager, rechts von der Straße stehen etwa 12 neue teilweise noch im Bau befindliche Häuser und Häuslein.

Besonders auffallend am Spitaltor iat der in der Stadt befindliche offenbar zu kleine Gottesacker (alter Begriff für Friedhof). Die Ratsprotokolle verzeichnen alljährlich fortlaufende Rechnungen über Arbeiten zur Vergrößerung desselben; wird aber doch nicht für die wachsende Bevölkerung lange mehr genügen.

Kehre ich nun in die Stadt zurück, so ziehen bei einer neuen Wanderung die zahlreichen Handelsfirmen die Aufmerksamkeit auf sich und zeugen von einer nicht unbedeutenden merkantilischen Tätigkeit. Die Jahrmärkte der Nachbarorte Haßfurt, Hofheim, Gerolzhofen, Wiesentheit, Rüdenhausen, hammelburg, Kissingen, Neistadt a.d. S. werden unter manchen Mühsalen und Beschwerden von hiesigen Geschäftsleuten bezogen, und Familien, die später bedeutendes, bis weit über Hunderttausend reichendes Vermögen hinterließen, sind nachts unterm Baumwollschirm auf Packkisten sitzend im Leiterwagen dorthin gefahren, um morgens für Bauern ihre Boutique aufzuschlagen. Den Detailhandel des Platzes selbst heben die Wochenmärkte selbst außerordentlich; die wohlhabende Bauernnachbarschaft, an einigen Komfort gewöhnt, ist aus ziemlicher Entfernung mit ihren Bedürfnissen auf hiesigen Platz angewiesen.  ....  Die Läden selbst sind meist noch ureinfach; im oft engen Vorplatz des Hauses ist zur Seite eine Glaswand von der ein Teil aufwärts geschoben werden kann; hinter derselben ein Ladentisch, auf dem 2 - 4 Personen auswiegen oder ausmessen. Die Käufer warten teilweise geduldig auf der Straße. Eleganz der Läden, Schaufenster mit zierlichen Auslagen sucht man hier vergebens. Bedürfnisse des Luxus werden von Würzburg oder Nürnberg bezogen.  ..... Unscheinbar in einer Seitengasse liegt das bedeutendste Geschäftshaus der Stadt nicht nur, sondern ganz Bayerns, die Firma W. Sattler, Engelhardt und Comp.;  die hier redicirte (gegründete) Farbenfabrik ist die erste Deutschlands; dazu gehört noch hier eine Zuckerraffinerie, in Schonungen eine Bleiweiß- und eine Sagofabrik, in Aschach eien Wedgewood (=Steingutfabrik), in Mainberg eine Tapetenfabrik.

Schweinfurt 1836 von Osten (Morgenseite) Radierung von Andreas Friedrich Kornacher
Schweinfurt 1836 von Osten (Morgenseite) Radierung von Andreas Friedrich Kornacher

Werfe ich einen Blick auf Leben und Sitte der Einwohner Schweinfurts selbst, so ist hierbei ein Rest reichsstädtischen Wesens   .... in seiner Beschränktheit nicht zu verkennen, ein Stolz des Stadtbürgers, der den Beamten nur so weit gelten lässt, als er seiner bedarf oder als er eine Potestas (= Macht) hat; ... Die geselligen Verhältnisse sind für Beamte insbesondere nicht eben anziehend. Der bessere Gewerbs- und Handelsstand ist häuslich, meist wirtshäuslich. Gartenwirtschaften für die Sommermonate, Kaffeehäuser für den Mittagscaffé fehlen ganz; die vielen Gärten bedingen für die Besitzer die Gewohnheit, ja Notwendigkeit, die Sommerabende en famille im garten zu verleben. Frauen können sich nur zu Hause oder in diesen Gärten treffen. .... In Sennfeld besteht schon seit längerer Zeit ein Kaffee-Club älterer Herren, Weltregierung genannt. Als Ersatz für öffentliche Geselligkeit dienen Hauskaffees oder in einigen wohlhabenden hospitalen Häusern splendide Abende. Wer nun an die Lebensweise in München, Nürnberg, Regensburg, Bayreuth usw. gewöhnt ist, findet in der hiesigen weder Ersatz noch Ersparnis, und doch muss er sich glücklich schätzen, wenn er in einen solchen, aus höchst achtbaren Gliedern bestehenden einheimischen Kreis Eingang findet. ....

Für die junge Welt der wohlhabenden und gebildeten Klassen bieten Bälle der Harmonie und des Liederkranzes Gelegenheiten, sich zu finden. Der unteren Klasse dienen dazu an jedem ersten Sonntag im Monat ... die so genannten Monatsmusiken, die besonders in den Wirtshäusern der Brückengasse, auch vom Lande aus besucht werden. Man braucht eben kein Puritaner zu sein, um da mit Unwillen dem wüsten Treiben eines üppigen Bauernvolks, so wie hiesigen Handwerksgesellen, und Häcker und Schiffsknechte zuzusehen. Schon nachmittags um 3 Uhr geht das Johlen und Schreien in den Häusern und auf der Straße an, da und dort wirds ein Raufen und Hinauswerfen; oft blitzt das Messer. Der Kilianstag und das Petri-Pauli Fest gehen selten ab ohne gefährliche Stiche. Über Sittlichkeit einer ganzen Stadt im allgemeinen sich auszusprechen, ist immer gewagt. Schweinfurt insbesondere im Jahr 1836 war wohl nicht besser und nicht schlechter als andere Städte unter gleichen Bevölkerungsverhältnissen...... Männer, die für die Jahre 1814 - 1816 (Garnison von Husaren) ein Gedächtnis noch haben, wissen aus einer Chronik scandaleuse jener Zeit, nicht lauter Erbauliches zu erzählen, und es sind nicht etwa blos Mägde und gemeine Soldaten, um die es sich handelt; es sind Namen besten Klangs von mamselln, Madamen und Ehemännern. Mit Religiosität oder Kirchlichkeit muss es vortrefflich stehen, wenn dafür die Preise der Sitzplätze in den Kirchen den Maßstab bieten.

Diese Plätze (Stühle, Stände) sind in beiden Kirchen fast alle Privateigentum, und ein gut situierter repräsentiert ein Kapital von 100 Gulden und darüber; ....

Gegen die Volksschule und ihre Leistungen kann ich nur mißtrauisch sein. Der Schullehrer ist hier nicht geachtet, aus der besseren Gesellschaft ausgeschlossen. ... Glücklich sind die hiesigen Lehrer ... , dass sie nicht allmonatlich Schulgelder oft unter polizeilicher Assistenz einsammeln und an die Stadtkasse abzuliefern haben; es wird in den Volksschulen hier überhaupt gar kein Schulgeld bezahlt. ....

Seit Anfang des dritten Jahrzehnts sind einige Juden hier sesshaft, ein Uhrmacher Elson und die aus Schonungen eingewanderte Familie Kleemann, die einen bedeutenden Weinhandel treibt und darin un Russland und in Spanien Geschäfte macht. ...

Trotz des bedeutenden Handels sind doch die Verkehrsmittel und Wege noch sehr mangelhaft. .....  Zwischen Schweinfurt und a) Würzburg, b) Bamberg, c) Meinigen und im Sommer d) Kissingen geht zwar täglich je eine Briefpost hin und her, Personen- oder Fuhr- und Paketpost jedoch nur wöchentlich zwei Mal. .... An der Spitze der Stadtverwaltung steht seit 18. Dezember 1829 der bürgerliche Bürgermeister Kirch; er hat Universitätsstudien gemacht, doch nicht rite (= mit ausreichendem Erfolg) absolviert. ... Er ist ein älterer, gemäßigtem Fortschritt huldigender Herr, allezeit mit einer Schreibtafel versehen zur Aufzeichnung von beobachteten oder zur Sprache gebrachten polizeilichen Mißständen. ....

Ihm zur Seite stehen zwei Rechtsräte, Reuter ...., ein unerschütterlicher Opponent gegen alles Neue, besonders, wenn es Geld kostet, und Cramer, ein Jurist der neueren Schule, außerdem 8 bürgerliche Magistratsräte....  Die Rechtspflege in der Stadt und über die Herrn des befreiten Gerichtsstandes (Adel und Geistlichkeit) im Kreisbezirk, der bis an die Thüringer Grenze reicht, übt das Kreis- und Stadtgericht, über das Land das Landgericht. ... Von Bedeutung ist hier das Hauptzollamt. Seine Erträgnisse sollen den dritten Platz im Königreich einnehmen, hauptsächlich durch die Einnahme von Kolonialzucker, der hier in zwei Fabriken raffiniert wird; dieselben entrichten dafür über 300.000 Gulden Eingangszoll. ...