1960 und die Jahre danach - "Gastarbeiter", die mehr als Gäste waren, kamen nach Schweinfurt
Das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Spanien im Jahr 1960 war das erste einer ganzen Reihe von Abkommen, um dem Wirtschaftsaufschwung in Deutschland zu genügend Arbeitskräften zu verhelfen. Es folgte Griechenland im selben Jahr und die meisten Arbeitskräfte kamen aufgrund des Abkommens zwischen Deutschland und der Türkei am 30. Oktober 1961. „Gastarbeiter“ war damals der gängige Begriff, ohne dass man diesem einen negativen Anstrich beimessen wollte. Doch schätzte die Politik die Entwicklung falsch ein. Es kamen nicht nur Arbeitskräfte für eine vorübergehende Zeit (was beide Seiten falsch einschätzten), sondern es kamen Familien, die sich in einer ihnen fremden Kultur zurechtzukommen versuchten. Zwischen 1961 und 1973 mehr als 2,5 Millionen Menschen aus der Türkei um eine Arbeitserlaubnis in Deutschland, jeder Vierte wurde genommen. Diese Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Türkei sollten ein, zwei Jahre in Deutschland bleiben. Später wurde die Aufenthaltsdauer verlängert, da die deutschen Unternehmer feststellten, dass sie es sich nicht leisten konnten oder wollten, ständig neue Kräfte anzulernen. Die Mehrheit blieb für immer, hin- und hergerissen zwischen ihrem neuen Zuhause und ihrer Heimat, gepaart mit meist sprachlich bedingter Isolation und ihnen entgegengebrachter Zurückhaltung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung, die ebenfalls auf die Situation nicht vorbereitet wurde. Heute ist das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung zum größten Teil gewandelt, doch gibt es noch viel zu tun, gerade um einer leider oft religiös bedingten Abkapselung ausländischer Mitbewohner entgegenzuwirken und noch so manchem Deutschen Akzeptanz und Toleranz anderer Kulturen näherzubringen.
Im Türkischen wurde das Wort "Gurbet" (die Fremde, das ferne Land) zum Synonym für Deutschland – dem fernen Land, in dem seit Beginn der Arbeitsmigration nach Europa viele in der Türkei mindestens ein Familienmitglied hatte. Aus Deutschland berichteten die Fortgegangenen von Wohlstand und Freiheit, aber auch von Heimweh, Sehnsucht und Einsamkeit, harter Arbeit, leider auch von Rassismus und Diskriminierung. Diese Erzählungen prägen zum Teil heute auch das Bild, das sich viele Menschen in der Türkei von Deutschland machen. In gleicher Weise prägen noch heute örtliche türkische Familien das Türkei-Bild der Deutschen, die sich oft wundern müssen, wenn sie mit falschen Vorstellungen die Türkei besuchen.
In Schweinfurt erkannte man frühzeitig die Notwendigkeit, den bei uns in der Stadt wohnenden ausländischen Menschen Hilfe zu leisten. Allen voran engagierte sich hier in vorbildlicher Weise der Christliche Verein Junger Menschen e.V. (CVJM), der im Jahr 1962 mit der Betreuung ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien begann.
Das Engagement der CVJM war von so großem Maße, dass sowohl griechische als auch türkische Arbeitnehmer innerhalb des CVJM eigene Vereine gründeten!
Die Hilfe der CVJM Schweinfurt wurde zu einem bundesweiten Vorbild, wie Presseberichte deutlich machen:
20.10.1962 – „Hohes Lob für Gastarbeiterbetreuung (Arbeit des CVJM Schweinfurt)
Modellfall für die europäischen Länder“
24.03,1964 - „Ausländerbetreuung vorbildlich“ Weltbundsekretär Miethke besucht
CVJM Schweinfurt
Im Protokoll der Arbeitsgemeinschaft für Gastarbeiterbetreuung in Schweinfurt ist am 27.01.1965 folgendes ausgeführt: „Die Türken haben einen „Verein türkischer Arbeitnehmer in Schweinfurt e.V.“ gegründet, dessen Vorsitzender Dr. Osmanovic ist. Ein Vorstand wurde gebildet, damit Herr Dr. Osmanovic nicht allein alle Last zu tragen hat. In vielen Einzelfällen konnte wirkungsvoll geholfen werden, für Übersetzungen und andere Hilfen stellt sich Dr. O. des Öfteren zur Verfügung. In Schweinfurt befinden sich zur Zeit 131 Türken, in deren Umgebung 450 weitere Personen, von denen viele bei den großen Veranstaltungen der Türken (Opferfest, Tag der Republik usw.)an den monatlichen Zusammenkünften im CVJM-Haus und den Ausflugsfahrten (zum Kennenlernen der neuen Umgebung) teilnahmen.“ Ähnliches wurde berichtet für Griechen, Italiener und Spanier.
So kam z.B. Nureddin Osman Osmanovic als Sohn türkischer Eltern, geboren 1922 im damaligen osmanischen Mazedonien, 1961 nach Schweinfurt und fand Arbeit der Firma F&S. Ihm war viel zu verdanken, dass sich ankommende türkische Arbeiter zurechtfinden konnten, denn durch seinen langjährigen Aufenthalt in Berlin kannte er die Sprache und die deutschen „Spielregeln“. Trotz schlechtem Gesundheitszustand half er seinen Landsleuten bei Behördenkram, beim Übersetzen, beim Suchen einer Wohnung und vielem mehr. Er versuchte immer und überall, Integration zu fördern. Viele kamen mit einem Zettel, auf dem Stand „Osman Abi (großer Bruder Osman) wird schon alles erledigen. Für sein Engagement erhielt er die türkische Ehren-Staatsbürgerschaft. Er gründete den Verein türkischer Arbeitnehmer und wurde dessen Erster Vorsitzender. Er, der leider bereits 1974 an seiner schweren Krankheit starb, hat Großes in Schweinfurt geleistet.
Doch in der zweiten Hälfte der 1960er, als viele weitere Türken ihren Landsleuten nach Deutschland folgen wollten, mussten oft Frauen der Familie vorausgehen, da Männer nicht mehr angeworben wurden. Kinder und Mann wurden in der Türkei zurückgelassen und man hoffte auf bald möglichen Familiennachzug. Und der gelang meist.
Doch irgendwann schwächelte die Konjunktur, die geholten Arbeitskräfte blieben, obwohl sie dies nicht vorhatten (auch ohne Arbeit), und leider kam es zu einer Abkapselung eines nicht unerheblichen Teils der türkischen Bevölkerung in Schweinfurt. Einer falschen und integrationsschädlichen Politik wie der Einführung fremdsprachiger Schulklassen versucht man heute entgegenzuwirken und ein großer Anteil unserer ausländischen Mitbürger versteht sich heute als fester Bestandteil des Schweinfurter Lebens. Immer mehr Abkömmlinge einstiger Migranten sind aus dem unternehmerischen, politischen und gesellschaftlichen Leben unserer Stadt nicht mehr wegzudenken und das ist gut so.
Helfen wir alle mit, dass das Miteinander zwischen allen Schweinfurter Bevölkerungsgruppen weiter gedeiht und keiner mehr nach Herkunft oder Hautfarbe oder Religion beurteilt wird. Toleranz und Verstehen ist ein gegenseitiges Gebot!
Bild links: Güssüm Yilmaz kam 1970 nach Schweinfurt und konnte erst ein halbes Jahr später ihren Mann und 2 Jahre später ihre Kinder nachholen; 1 Kind folgte erst 1978
Am schlimmsten waren die Wanzen!
Fadil Yeniay erzählt
Ich wurde am 3.2.1943 in Novi Pazar, in Serbien, also im ehemaligen Jugoslawien geboren. Novi Pazar hatte damals zwischen 18.000 und 20.000 Einwohner. Meine Familie zählt zu den Volkstürken, weil Jugoslawien über mehrere Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft war. Wir sind Moslems. Mein Vater wurde 1942 in Gefechten mit den Serben schwer verletzt und starb, als ich gerade 3 Monate alt war. Mein Vater hatte mit den Deutschen gegen die Partisamen, also gegen die Kommunisten, gekämpft. Folglich bekam unsere Familie nach dem Sieg Titos immer wieder den Hass der Serben zu spüren. Deshalb wollten wir raus aus Jugoslawien.
Meine Mutter hatte Verwandte in der Türlei. Mit großer Mühe fanden wir ihre Anschrift. Aber die Ausreise aus der Jugoslawischen Republik Serbien war nicht möglich. Deshalb mussten wir uns aus der Republik Serbien abmelden und danach in der Republik Mazedonien ansiedln und von dort aus unsere Auswanderung in die Türkei beantragen. Es dauerte fast drei Jahre, bis wir in die Türkei auswandern durften. Wir zogen in die Stadt Adapazari, etwa 130 km östlich von Istanbul.
Die Schulzeit in Mazedonien und auch in der Türkei war für mich nicht einfach, da ich damals die türkische Sprache nicht so gut konnte. Nachdem ich das Gymnasium absolviert hatte, lernte ich den Beruf des Automechanikers. Anfang der 1960er Jahre erfuhren meine Familie und ich von der Möglichkeit, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen.
Als erster ist mein Bruder im Jahre 1962 nach essen als Bergarbeiter gekommen, danach ging mein zweiter Bruder 1964 nach Haßfurt zur Wollspinnerei (Textilfabrik). Die sich damals schon in Deutschland aufhaltenden Brüder hatten mich im Jahre 1966 über das Arbeitsamt Schweinfurt für die Baufirma Huschke & Weis angefordert.
Ich glaube, man musste damals mindestens 18 Jahre alt, aber nicht älter als 32 Jahre sein und durfte nicht mehr als zwei Kinder haben.
Erst sind wir gründlich im Arbeitsamt Istanbul von einem türkischen Arzt untersucht worde, dann war man berechtigt, zu den deutschen Ärzten zu gehen. Diese Ärzte waren in der Auslandsabteilung. Es gab auch Übersetzer.
Ich werde die Untersuchung nie vergessen. Wir mussten uns nackt ausziehen. Im Raum war auch eine Arzthelferin. Sogar vor der Arzthelferin wurde unser Unterleib untersucht. Es war schlimm für mich. Dann mussten wir vor den Ärzten Gymnastik machen: bücken, langsam aufstehen, Hände nach vorne, Hände aufmachen. Als ich zum türkischen Wehrdienst musste, bin ich ähnlich untersucht worden.
Ich habe mich am Anfang als Bauarbeiter schwer getan, aber es hat dennoch Spaß gemacht. Wir haben die Häuser in der Stresemannstraße und später in Gochsheim die Fleischfabrik Kirchberger genaut. Zwischenzeitlich habe ich einen Opel Rekord gekauft, Baujahr 1956. Die Maschine war gut, es waren nur ein paar Kleinigkeiten zu reparieren, aber ich habe gedacht: das bringst du hin. Ich habe ihn angestrichen und für die Türkei vorbereitet.
Schweinfurt kam mir wie ein Dorf vor. Aber die Leute waren freundlich, wohl weil ich noch jung, noch keine 23 Jahre alt war. Ich habe immer ein bisschen Musik gesucht, im damaligen Wallbräukeller in der Alten Bahnhofstraße. Aber ich habe mich oft einsam gefühlt. Wenn ich irgendwo war, wurde ich oft angesprochen. "Hallo ausländischer Kollege, woi kommen Sie her?" Was komisch war, dass sie viele Länder aufzählten, bis sie dann endlich auf die Türkei kamen.
Ende 1966, zum Neujahr, wollte ih irgendwo feiern. Aber ich habe niemanden gekannt und bin zu Fuß von Gaststätte zu Gaststätte gegangen. Dann bin ich zum CC-Cafe (Anmerkung: heute KuK) gekommen. Als ich es betrat, war es voll. Ich konnte nur "Bitte ein Bier" oder "Haben Sie Freiplatz" sagen. Ich war um 19 Uhr da und die Bedienung sagte, dass kein Platz mehr frei wäre. Ich wollte schon gehen, als mich jemand gerufen hat. Es waren deutsche, ein junges Ehepaar, das selbst zusammenrückte, um noch einen Platz zu schaffen. Wir haben uns fotografieren lassen und uns sehr gut amüsiert, auch wenn wir uns mit Händen und Füßen verständigen mussten. Es war ein schöner Abend. Ich habe mich nicht mehr so einsam gefühlt. Nach diesem Ehepaar suche ich heute noch.
Ich hatte keine Probleme mit meinen Arbeitskollegen. Sie waren behilflich und entgegenkommend. Ich konnte damals nicht richtig Deutsch sprechen, aber ich wurde nicht ausgelacht. Ich erinnere mich heute noch, als ich Herrn Osmanovic kennenlernte. Seine Frau war Kinderärztin im Städt. Krankenhaus. Er war damals wie ein Vater zu uns, er hat sich um alles gekümmert. Er war, wie ich, gebürtiger Jugoslawe, während des Krieges hat auch er mit den Deutschen gegen die Partisamen gekämpft. 1963 hat er den Verein türkischer Arbeitnehmer gegründet, der heute (1991) seinen Sitz in der Cramerstraße hat. Zwischenzeitlich belegte ich mehrere Deutschkurse, um mich verständigen zu können.
Im Jahre 1968 war ich inzwischen schon seit zwei Jahren bei der Firma Fichtel&Sachs beschäftigt. Dann kamen die ersten Jugoslawen. Es war niemand da, der die Sprache kannte und übersetzen konnte, nur ein Grieche sprach mazedonisch. Als ehemaliger Jugoslawe habe ich geholfen die Jugoslawen anzulernen. Der Meister wusste bald nicht, ob ich nun Türke oder Jugoslawe bin. So war ich bald Mädchen für alles. Personalien aufnehmen, Arbeitsplatz zeigen, den Weg in die Abteilung. Manchmal haben sie sich in der Stadt verirrt und fanden den Weg zu den Baracken nicht mehr wieder. Zum Glück war ich ledig und hatte Zeit. Ich habe auch gerne geholfen. Die neuen Gastarbeiter kamen überwiegend aus der Landwirtschaft, es war für sie eine völlig neue Welt.
1968 wurde ich Betreuer der ausländischen Mitarbeiter. Mit dieser Aufgabe hatte ich zwar eine 6-Tage-Woche, aber ich hatte auch mehr Urlaub und wurde besser bezahlt als an der Maschine. Meinen Vorgesetzten Georg Hensel, Reinhold Geus und dem Vorstandsmitglied Dr. Schneider werden wir ausländischen Mitarbeiter immer dankbar sein, da sie uns nicht nur gut verstanden haben, sondern uns auch bei unseren festlichen Anlässen nicht allein gelassen haben.
Noch etwas zu unseren Wohnheimen bzw. Baracken. Sie waren eine Zumutung. Im Winter blies der Wind den Schnee durch die Ritzen. Die Zimmer etwa 12 qm groß, je sechs Betten, zwei Wolldecken für jeden. In jedem Zimmer ein Ölofen. Die Öltanks standen vor den Baracken. Die Einrichtungen der Zimmer sahen so aus: Stahlschränke, Tische, Stühle. In der Küche Kochplatten und Waschbecken. Toiletten deutsch und türkisch, letztere ein Loch im Boden für stehende Verrichtungen. Die Duschräume waren betoniert und nur für Männer. Da war auch ein Trockenraum, den wir am Freitag als Gebetsraum nutzten. Es gab auch ratten. Ein Kind, das zu Besuch war, sah eine und rief: "Sie mal da sind Hasen!"
Schlimm waren die Wanzen, die bei Dunkelheit hervorkamen und stachen. Das Gesundheitsamt wurde gerufen, eine Firma aus Bad Kissingen kam und versuchte das Ungeziefer zu bekämpfen. Aber es half nicht viel und so wurde 1976 die erste Baracke abgerissen.
Als die Miete erhöht wurde, haben die Bewohner einen Aufstand gemacht und den Betriebsrat verständigt. Es tat sich nichts. Da haben wir in einer Streichholzschachtel mehrere Wanzen zum Betriebsrat gebracht. De damalige Vorsitzende, Adolf Ley, hatte im 2. Weltkrieg eine Wanzenallergie entwickelt. Als er die Wanze sah, hat er sich nur noch gekratzt und geschrien: "Weg damit!" Dann wurde der Vorstand geholt. Die Baracken wurden geräumt. Als Wohnersatz wurde ein Haus in der Ernst-Sachs-Straße, welches der Firma gehörte, eingerichtet.
Damals hieß sie Ernst-Sachs-Straße, sie wurde später im Volksmund zur Ankara-Straße umbenannt. Den Platz, wo die Baracken standen, nennt man nun den Türkenplatz.
Hüsamettin Erdinc kam im Juli 1973 nach Deutschland. Nachstehend sein erster Arbeitsvertrag bei Fa. Fichtel & Sachs und die damals ausgefertigte "Legitimationskarte".
Er kam um wieder heimzukehren und starb hier als deutscher Staatsbürger. Er ist heute auf dem Deutschfeldfriedhof beerdigt.