Geschichte des Haus Marienthal in Schweinfurt

 

150 Jahre Haus Marienthal in Schweinfurt


Jubiläum 2001


Waisenhaus – protestantische Waisenhausschule – Rettungshaus - Erziehungsanstalt Schule und Erziehung im 19. Jahrhundert (Jubiläum 2001)

geschichte/ jugendhilfe-19tesJahrhundert-haus-marienthal/

von Bert Ackermann 

 

Bert Ackermann hat eine umfassende Zusammenstellung der Geschichte des Hauses Marienthal anlässlich des 150-jährigen Jubiläums erstellt und diese  dem Schweinfurtfuehrer zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank dafür!

Öffnen Sie einfach die nachfolgende pdf-Datei!

 

 

150 Jahre Haus Marienthal - die Geschichte des Hauses von Bert Ackermann - Teil 1
150JHausMarienthal.pdf
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150 Jahre Haus Marienthal - die Geschichte des Hauses von Bert Ackermann - Teil 2
Marienthal_Zwangsaufloesung_Gestapo.pdf
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Ebenfalls mit der Geschichte des Hauses Marienthal hat sich Herr Peter Baltes intensiv beschäftigt. Dankenswerterweise dürfen auch seine Recherchen hier der Öffentlichkeit dargeboten werden. Vielen Dank!

 

Die Schließung des Hauses Marienthal im Dritten Reich

 

 

Januar 1940: Dem Ende sehr nahe

 

- Daten zur Schließung der Einrichtung -

 

Zu keinem anderen Zeitpunkt in seiner langjährigen Geschichte sind Existenz, Ruf und Zukunft des Hauses vergleichbar massiv in Frage gestellt, wie am Donnerstag, dem 25. Januar 1940.

Am Abend jenes Tages hat der Vorsitzende des Verwaltungsrates, Pfarrer Adam Beyhl, am Ende der dritten Verwaltungsratssitzung innerhalb von zwei Tagen nach einstimmigem Votum des Gremiums zu erklären:

„Mit Rücksicht auf die in der heutigen Sitzung im Rathaus von dem Vertreter der Geheimen Staatspolizei abgegebenen Erklärung hat der Verwaltungsrat d. Evangelischen Erziehungsheimes in SW e.V., der zur gleichen Zeit die Generalversammlung verkörpert, die freiwillige Auflösung des Vereins beschlossen.

Es hat nunmehr §9 der Satzung vom 30.08.1901 in Kraft zu treten.“

Beschlossen sind damit die Schließung des Heimes, die Liquidation des Vereins und der entschädigungslose Übergang des kompletten Vereinsvermögens (Haus, Grundstücke, Wertpapiere) an die Stadt Schweinfurt – aus damaliger Sicht endgültig.

Nicht lange zuvor waren staatliche Stellen noch zu einer Einschätzung gekommen, die eine andere Entwicklung wahrscheinlicher erschienen ließ. Sicher ohne dass dies im Haus bekannt wurde, hatte die NSDAP-Kreisleitung Würzburg am 19. 11. 1938 dem Finanzamt Bad Neustadt/Saale auf eine entsprechende Anfrage in einer „Auskunft über Johanneum Schweinfurt“ mitgeteilt:

„..., dass es sich bei dem bezeichneten Johanneum um eine Stiftung handelt, welche dem ev. Pfarrer Beyl, dahier untersteht. Beanstandungen brauchten bisher in diesem Institut nicht zu erfolgen. Pfarrer Beyl gehört zwar der ev. Bekenntnisfront an, ist aber nicht als Fanatiker in dieser Hinsicht zu bezeichnen.

Das Johanneum ist zur Unterbringung von Schülern geeignet; die Erziehung dort erscheint im allgemeinen einwandfrei, steht jedoch etwas unter einem gewissen religiösen Einfluss.“
(Pfarrer Beyhl war Vorstand sowohl des „Evangelischen Schülerheims Johanneum“ –Oberer Marienbach 6- wie des §Erziehungsheims Marienthal“ –Oberer Marienbach 7)

Dass eine derartige „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ keine Selbstverständlichkeit war, zeigt eine am gleichen Tage vom gleichen Absender –diesmal an das Finanzamt Schweinfurt- gegebene Einschätzung einer anderen Schweinfurter Einrichtung:
„Auskunft über Verein Kolpinghaus Schweinfurt

Die Gaststätte „Kolpinghaus“ ist Eigentum des kath. Verein Kolpinghaus und eignet sich nicht zur Unterbringung von Schülern. Die Betreuung wird dort von kath. Geistlichen und Klosterschwestern (in geistiger Hinsicht) vorgenommen. Da dabei das natsozu. Gedankengut völlig ausseracht gelassen wird, ist selbstverständlich. Im übrigen Verkehr in der Gaststätte selbst, sind die untergebrachten Schüler manchen Einflüssen von seiten kath. Vereine u.dgl. ausgesetzt. Zu bemerken ist dabei, dass im Herbst 1937 in der genannten Gaststääte von einem kath. Geistlichen Hetzbriefe gegen den Reichsminister Dr. Goebbels verteilt wurde.

Heil Hitler Kreisleiter“ [Originaltext]

 

In Bezug auf die Geschichte des Marienthals ist festzustellen:
Auf wichtige Dokumente –etwa den von der Gestapo eingezogenen Aktenbestand des Hauses oder bestimmte Gestapo-Unterlagen- besteht nach wie vor kein Zugriff. Dennoch erlauben vor allem die erhaltenen Protokolle der entsprechenden Verwaltungsratssitzungen des Vereins, Aufzeichnungen von Pfarrer Beyhl, der Einblick in die Gestapoakten über die Verhöre von Kindern und Jugendlichen aus dem Haus sowie einem Mitarbeiter, dem Diakon W., sowie der Schriftverkehr im Zuge des Entschädigungsverfahrens nach dem Krieg die Rekonstruktion der Ereignisse.

Zugespitzt hatte sich die kritische Entwicklung zu Beginn der Woche, in der die als „freiwillige Selbstauflösung“ deklarierte, faktisch aber von der Gestapo erpresste Vereinsauflösung besiegelt wird.
Entscheidend waren vier Tage im Januar 1940.

 

 

Montag, 22. Januar 1940

In seinem am 27.1.1940 verfassten Bericht hält Pfarrer Beyhl fest:
„Am Montag, den 22.1.40 wurde ich nach Rückkehr vom Schulunterricht [Pfarrer Beyhl erteilte auch Religionsunterricht am Städt. Gymnasium, d. Verf.] in die Anstalt
Marienthal gerufen. Dort trat mir ein Herr der Gestapo Würzburg gegenüber und erklärte, sie seien beauftragt auf Grund verschiedener Angaben und Beschwerden den gesamten Anstaltsbetrieb zu überprüfen und forderten von mir, dass ich die Anstalt nicht eher wieder betreten möchte, bis sie mich rufen würden, was zwei bis drei Tage dauern könnte. Es sei das nötig, um den Verlauf der Untersuchung nicht zu beeinträchtigen. Fragen meinerseits, nach welcher Seite hin und durch wen Angaben und Beschwerden eingelaufen seien, fanden

 

die Antwort, dass darüber kein Aufschluss gegeben werden dürfte. Ich sah und erfuhr nur noch, dass in mehreren Zimmern Untersuchungsräume eingerichtet und mit Herren der Gestapo besetzt worden waren. Der Hausvater, Verwalter Habdank, war am Morgen beim Eintreffen der Gestapo sofort in Schutzhaft genommen und weggeführt worden, der Hausmutter und den Angestellten war gesagt, dass sie jegliche Besprechungen mit den Kindern zu unterlassen hätten, weil sonst ähnlich mit ihnen “verfahren werden müsste, wie mit dem Hausvater".

Montag, 22. Januar 1940 und Dienstag, 23. Januar 1940

An den beiden ersten Tagen der Woche werden der Hausvater, Hans Habdank, Kinder und Jugendliche „Heimzöglinge“ sowie der Erziehungsgehilfe W., der dem Hausvater unterstellt und für die Erziehung der männlichen Heimbewohner zuständig war, von der Gestapo verhört.

Im Staatsarchiv Würzburg sind die Gestapoakten über die Verhöre von W. und zwölf -ausnahmslos männlichen Heimbewohnern im Alter von 8 bis 19 Jahren erhalten. Ebenfalls im Haus lebende Mädchen werden nicht erfasst. Der Akt des Hausvaters Habdank ist –wie die Akten von Personen, deren Nachnamen mit den Buchstaben A-J beginnt- verschollen.

 

 

Auch wenn sich über die Art und Weise der Fragestellungen und der Verhörpraxis nur Vermutungen anstellen lassen, ist davon auszugehen, dass die Vernehmungen für die Kinder und Jugendlichen aus dem Haus, die teils noch im Grundschulalter sind, in einer besonderen angespannten Atmosphäre stattfinden.

Gefordert wird in jedem Fall eine Schweigeerklärung, alle Befragten haben zu unterschreiben:

„Ich nehme zur Kenntnis, dass ich über den Grund meiner jetzigen Vernehmung im Heim mit niemand sprechen darf und bei Zuwiderhandlung gegen diese Auflage polizeiliche Maßnahmen zu erwarten habe.“

 

Deutlich wird durch die jeweiligen Verhör-Protokolle, auf welche Sachverhalte es den Ermittlern offenkundig in besonderer Weise ankam.

Drei Schwerpunkte lassen sich feststellen:

1. Besonderheiten im Heim-Alltagsleben

Aussagen von Kindern/Jugendlichen aus dem Haus weisen auf gravierende Unterschiede zum Leben außerhalb des Heimes hin, die für sie in gewisser Weise ein Pendeln zwischen zwei Welten – der Welt im Marienthal und der in Schule und Ausbildung- erforderlich machen:

  • -  Heimbewohner bestätigen, dass eine Mitgliedschaft der Jungen in der Hitlerjugend –wie auch der Mädchen im BDM- vom Hausvater Habdank aufgrund ursprünglich gemachter negativer Erfahrungen ausdrücklich untersagt worden sei. Der Heimbewohner F.K äußert, dass „das Leben draußen fröhlicher“ sei und bezieht sich dabei möglicherweise darauf, dass in den entsprechenden NS-Gruppierungen sicher auch jugendliche Bedürfnisse nach Abenteuer und Gemeinschaft angesprochen wurden, denen im Haus aus seiner Sicht zu wenig Rechnung getragen werde.

  • -  Fragen des Nationalsozialismus würden im Alltag nicht thematisiert, es gäbe keine Vorträge bzw. Informationen mit politischem Inhalt.

  • -  Der übliche Gruß laute „Grüß Gott“; lediglich der Erziehungsgehilfe W. lasse vereinzelt mit „Heil Hitler“ grüßen.

  • -  Viel Wert werde vom Hausvater auf die religiöse Erziehung gelegt, die sich in der Pflicht zum Besuch des Sonntagsgottesdienst sowie der Einhaltung häufiger, über den Alltag verteilter Zeiten des gemeinsamen Gebets konkretisiere. Der Heimbewohner W.P. gibt an, dass der Hausvater Habdank einmal betont habe, das Vorbild für die Jungen dürfe „nicht Hitler“ sein, sondern „Jesus“.

2. Die Praxis der Züchtigungen im Heim

Mehrere Kinder/Jugendliche geben zu Protokoll, dass sie selbst von körperlichen Züchtigungen bei tatsächlichen –eingestandenen- und angeblichen Regelverletzungen betroffen gewesen seien bzw. von solchen bei anderen gehört hätten. Offiziell sei es Aufgabe des Hausvaters gewesen, diese Züchtigungen vorzunehmen. Bevorzugtes Disziplinierungssmittel seien Schläge mit einem Rohrstock (5 bis 10, maximal 15 Schläge mit einem 81 cm langen „spanisches Rohr“) auf das bekleidete Gesäß bzw. die Hände gewesen. Bei größeren Kindern seien Maßnahmen wie „Ausgangssperren und Filmverbote“ ergriffen worden.

Allerdings sei wiederholt auch der Erziehungsgehilfe W. negativ in Erscheinung getreten.

W. selbst gibt in seinem Verhör an, dass ihm vom Hausvater ausdrücklich verboten worden sei, eigenmächtig Züchtigungen vorzunehmen. Er räumt aber auch ein, sich teilweise nicht an diese Direktive gehalten zu haben. So habe er „ab und zu Ohrfeigen verteilt“, mitunter auch „Zöglinge richtig verhauen“. Auch Schläge mit einem eigenen Rohrstock (50 cm langes spanisches Rohr) bestreitet er nicht.

Ebenso wenig dementiert er, in Einzelfällen exzessiv gestraft zu haben, indem er etwa
- Heimbewohner im Winter bereits um 4 Uhr zur „Gymnastik“ antreten gelassen habe bzw. “weil keine Ruhe im Schlafsaal eingetreten“ sei, dies auch am Abend um 21.30 h angeordnet habe
- Jungen zwangsweise unter die kalte Dusche gestellt habe, wobei vor allem bei den „Wasserscheuen“ andere Heimbewohner diese Jungen hätten festhalten müssen.

 

Derartige drakonische Strafen seien allerdings nach Bekanntwerden vom Hausvater verurteilt und die entsprechenden Aktivitäten ganz eingestellt worden.

Zu seiner Rechtfertigung führt W. an, dass „eine strenge Erziehung in diesem Heim unbedingt notwendig“ sei. Allerdings sieht er sich auch als heillos überfordert an. Speziell für die Arbeit mit Schulkindern sei er nicht ausgebildet gewesen. Nachdem ein zweiter Erzieher vor Monaten zum Kriegsdienst eingezogen worden sei, hätte allein bei ihm die Verantwortung für die Betreuung von bis zu 90 männlichen Kindern/Jugendlichen gelegen. Bei seinem Rund-um-die-Uhr-Dienst (die Nächte habe er in einem vom Schlafsaal der Jungs abgetrennten „Verschlag“ verbracht) sei er auch für hausmeisterliche Aufgaben wie die Instandhaltung von Heizung und Wasserleitung zuständig gewesen, Informationen über die Vorgeschichte der von ihm Betreuten seien ihm nicht gegeben worden.

3. „Sittliche Verfehlungen“ im Haus

Die Durchsicht der Verhörprotokolle macht deutlich, dass unter „sittlichen“ Verfehlungen speziell „sexuelle“ verstanden wurden.
Von keiner Seite wird dabei Verantwortlichen übergriffiges Verhalten zur Last gelegt, es geht
ausschließlich um Aktivitäten der männlichen Kinder/Jugendlichen.

Überwiegend werden von Heimbewohnern Berichte über heimliche „Selbstbefleckung“ (bei der man sich nicht „erwischen“ lassen durfte bzw. die auch Grund für Denunziationen gewesen sei), gemeinsame Masturbation und sehr vereinzelt über Versuche weitergehender homosexueller Praktiken zu Protokoll gegeben. Lt. dem Erziehungshelfer W. sei es auch zu Meldungen „über Schweinereien“ aus dem Städtischen Krankenhaus gekommen, in dem einige Heimbewohner längere Zeit infolge einer Diphtherie-Epidemie stationär untergebracht waren, wobei hier vornehmlich eher exhibitionistische Aktivitäten angesprochen worden seien.

Häufig erklären Heimbewohner auch, keine Wahrnehmungen zu dem Themenkomplex zu haben, beziehungsweise –wie der Jugendliche F.K.- von der Thematik kaum betroffen zu sein:
„Ich habe fast keinen Geschlechtstrieb und kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich mich in sittlicher Hinsicht weiter nicht verfehlt habe.“

Dass für einzelne Heimbewohner die Verhöre noch Jahre später von Bedeutung sind, wird u.a. aus der Gestapoakte von W.S. deutlich. Nachdem dieser sich im Jahre 1943 um eine Anstellung als Maler bei einem Fliegerhorst bewirbt, weiß die Politische Polizei Würzburg auf eine „Überprüfungsanfrage“ hin kaum etwas über ihn zu berichten, hält aber offenkundig für mitteilenswert, dass „S. angebl. im Alter von 13 Jahren wiederholt mit anderen Zöglingen onaniert“ habe

(Konsequenzen dieser Mitteilung sind nicht bekannt)

Mittwoch, 24. Januar 1940

Am dritten Tag der Gestapo-Aktion wird erstmals der Vorsitzende des Verwaltungsrates einbezogen. Sein Bericht vom 27.01. enthält sehr detailliert Angaben über Vorgeschichte, Verlauf, die Position des Verwaltungsrates zu den Vorwürfen und von den Vertretern der Politischen Polizei angedrohte Konsequenzen für die Einrichtung:

„Am Mittwochnachmittag 1/2 2 Uhr wurde ich zur Vernehmung und Berichterstattung vorgeladen. Ich wurde über meine Stellung und Verpflichtung zur Anstalt als Vorsitzender des Verwaltungsrates verhört, wurde befragt, wie weit ich von Beschwerden über den

 

Betrieb in der Anstalt Kenntnis erhalten hätte entweder durch Mitteilungen der auswärtigen Jugendämter oder von anderer Seite und wie weit ich von sittlichen Verfehlungen der Zöglinge etwas erfahren oder gewusst hätte. Zur Frage der Beschwerden der Jugendämter bezw. der Kindereltern durch die Jugendämter (andere lagen nicht vor) erklärte ich: solche Beschwerden seien nur ganz vereinzelt eingelaufen. Sie wurden von mir dem Heimleiter übergeben, mit ihm besprochen und von ihm sachliche Darlegung des jeweiligen Falles verlangt und erstellt. Eine Gegenäusserung eines Jugendamtes oder eine weitere Verfolgung der jeweils aufgegriffenen Sache ist nie geschehen. So musste angenommen werden, dass der jeweilig Fall vom betreffenden Jugendamt als in Ordnung befindlich anerkannt war. Zur Frage nach der Kenntnis sexueller Verfehlungen konnte ich mitteilen, dass im Verlauf der letzten Jahre der Heimleiter bezw. die Erziehungshelfer glaubten etwas beobachtet zu haben. Es wurde mir sofort gemeldet und mit meinem Wissen jedesmal Anzeige an die Polizei gemacht. Das Ergebnis der polizeilichen Untersuchung war im einen Fall in Verbindung mit dem jugendlichen Alter des in Frage kommenden Zöglings so gering, dass es vom Richter nicht weiter verfolgt wurde. In den andern Fällen konnte auch die Polizei nichts feststellen. Hinsichtlich, der Frage nach dem Züchtigungsverfahren in der Anstalt durch den Heimleiter erklärte ich, dass ich wusste, dass körperliche Züchtigung vom Heimleiter in der Anstalt geübt werde. Ich hätte mit ihm darüber gesprochen und er habe mir geantwortet, dass er gesetzlich dazu berechtigt sei, und dass er körperliche Züchtigung zur Erreichung des Erziehungszweckes unbedingt verwenden müsste, dabei aber selbstverständlich im Rahmen der gesetzlichen Zulässigkeit bleibe. Mich habe zu dieser Aussprache besonders veranlasst, dass auch körperliche Züchtigung grösserer Mädchen auf das Gesäss geschehe, was mir persönlich widerstrebte, auch wenn die Schläge über die Bekleidung, wie es immer der Fall war, erteilt wurden. Nach dieser Einvernahme erklärte der untersuchende Beamte der Gestapo: "Herr Pfarrer, Sie werden erschüttert sein, wenn Sie nun auf Grund eingehender Untersuchungen der Kinder im Einzelnen und durch Gegenüberstellung erfahren, welche sittliche Verirrungen unter den Kindern seit Jahren bestanden haben und welche Überschreitungen des Züchtigungsrechtes vorliegen."

Sodann legte er mir dar, dass seit einer Diphtherieepidemie 1936/37 im Heime sich unter den Buben eine sexuelle Verseuchung vollzogen habe. Die Buben waren damals teilweise monatelang im Stadt. Krankenhaus als Bazillenträger, sonst oft seit Wochen wieder ganz frisch und gesund, untergebracht. Die Beaufsichtigung der Jungen, die in Krankensälen für sich gewesen sind, fehlte. Und hier sei es nun über Selbstbefleckung hinaus zu homosexueller Verirrung gekommen. Nach Erlöschung der Epidemie im Heime habe sich nach den Ergebnissen der Untersuchung zunächst das Verhalten der Buben wieder gebessert, sei aber in den letzten Jahren doch wieder in das Laster zurückgefallen. Es wurden mir darin einige Untersuchungsberichte vorgelesen, nach deren Angaben homosexuelle Verfehlungen von Zöglingen aufgedeckt waren. Ich konnte dazu nur sagen, dass Verwalter Habdank einmal vom Krankenhaus gerufen worden sei, um vier kleinere Zöglinge zu strafen, die die Schwester bei einer unsittlichen Entblößung ertappt habe, und dass nach Rückkehr diese Jungen besonders scharf im Auge behalten worden seien. Bezüglich der Überschreitung des Züchtigungsrechtes erfuhr ich, dass auch die Erziehungsgehilfen körperlich gestraft hätten, die dazu niemals befugt seien, dass sich vor allen Dingen der letzte Erziehungsgehilfe W. (sein Handeln war den Kindern natürlich am besten in Erinnerung) durch mancherlei Strafmethoden den Kindern gegenüber roh benommen habe. Auch der Heimleiter habe sein Züchtigungsrecht in manchen Fällen weit überschritten. Auch dafür wurden mir verschiedene Untersuchungsergebnisse vorgelesen, bei deren Wirklichkeit auch die in der Anstalt vereinte Zöglingsschar mit ihren schweren

 

Belastungen nicht ganz zur Entschuldigung ausreichen dürfte. Als Vorsitzender des Verwaltungsrates musste ich aber feststellen, dass mir und keinem der Verwaltungsmitglieder weder von der einen noch von der anderen Sache als tatsächliche Vorkommnisse und Zustände etwas bekannt geworden sei.

Der Beamte der Gestapo erklärte, dass es auf Grund dieser zwei verschiedenartigen Missverhältnisse im Anstaltsbetriebe, von denen jede allein für sich schon es hinreichend begründen würde, beschlossene Sache sei, dass das Heim sofort geschlossen werden müßte, ein Heim hier niemehr geführt werden könnte und auch der Verein zu verschwinden habe. Es gäbe für uns zwei Wege, entweder uns selbst aufzulösen und dann stiftungs- und statutengemäß Heim und Vereinsbesitz an die Stadt als Erbin weiterzuleiten, oder die zwangsweise Schließung und Enteignung durch das Reich über uns ergehen zu lassen.

Auf Vorschlag des Mitarbeiters der Gestapo kommt es noch am gleichen Abend zu einer Versammlung des Verwaltungsrats im Marienthal. An dieser nimmt auch Dekan Fabri als Vertreter der Kirchengemeinde teil.
Die Anwesenden werden durch Pfarrer Beyhl und den ebenfalls teilnehmenden Untersuchungsbeamten über die Vorgänge und Ergebnisse der Untersuchung unterrichtet. Vor allem aber erklärt der Untersuchungsbeamte, dass er bis zum kommenden Donnerstag, 11 Uhr, einen Beschluss über die Haltung des Verwaltungsrates in Händen halten müsse.

Pfarrer Beyhl schließt:

„Der Verwaltungsrat vertagte nach eingehender Besprechung, an welcher auch Herr Dekan Fabri, als Vertreter der Kirchengemeinde teilgenommen hatte, seine Verhandlungen auf Donnerstag, 25.1.40 morgens 9 Uhr mit der Vereinbarung, dass inzwischen Anfragen und Erklärungen auch an die kirchlichen Oberstellen ergehen sollten, was fernmündlich versucht und zum Teil gelungen ist.“

Wie erst später bekannt wird, erfolgt am gleichen Tag die Einsetzung eines „aus der Kirche ausgetretenen Gewerbeoberlehrers“ als Zwangsverwalter der Einrichtung.

Donnerstag 25. Januar 1940

Der Donnerstag verläuft dramatisch. Zwei Verwaltungsratssitzungen werden an diesem Tage abgehalten. Vor allem in der zweiten kommt es zu teils heftigen Auseinandersetzungen-

Pfarrer Beyhl hält fest:

„Am Donnerstag morgens 9 Uhr war der Verwaltungsrat im Sitzungszimmer des Dekanates zusammengekommen und Mitglied Justizrat Drescher, der am Abend, gefehlt hatte, nahm zur ganzen Lage Stellung. Auf Grund seiner Darlegungen und aus dem Bewusstsein heraus, dass der Verwaltungsrat auch einem weiteren Verfahren von Seiten des Reiches mit gutem Gewissen ins Auge sehen könne, kam ein Beschluss zustande, nach welchem einhellig die Selbstauflösung des Vereins abgelehnt wurde. Dieser wurde der Geheimen Staatspolizei noch am Vormittag überreicht. Am Nachmittag, etwa um 14.45 Uhr wurde ich von der Gestapo gerufen, Verwalter Habdank wünsche mich zu sprechen und habe dazu die Erlaubnis. Er war am Vormittag zu allen Fällen verhört worden und hat, wie ich später erfuhr, ugegeben, dass er körperlich öfter gezüchtigt habe, ohne dabei nach seiner Meinung das Züchtigungsrecht überschritten zu haben, den Erziehungsgehilfen aber habe

 

er körperliche Züchtigungen immer wieder verboten und rohe Behandlung jederzeit energisch zurückgewiesen. Von den homosexuellen Verfehlungen habe er nichts gewusst. Fälle von Selbstbefleckung seien ihm bekannt geworden und habe sie durch Strafe, mehr aber noch durch Besprechung mit den Buben zu beheben gesucht. Bei diesem Verhör scheint Heimleiter Habdank gesagt worden zu sein, dass er nun aus der Haft entlassen werden könnte, von der Gestapo aus, wenn wir Selbstauflösung beschlossen hätten. So aber müsste er 6 Wochen oder vielleicht auch länger festgehalten werden, bis die Sache der Beschlagnahme und die gewaltsame Auflösung des Vereins durch das Reich geschehen sei. Das bewog Heimleiter Habdank, mich rufen zu lassen. Beim Eintritt in die Zelle flehte er mich inständig an, ihn aus dieser Lage zu befreien und wenn es eben nicht anders geht, von meinem Recht als Vereinsführer Gebrauch zu machen und den Beschluss von heute morgen aufzuheben. Kurze fernmündliche Besprechung mit Herrn Dekan Fabri hatte das Ergebnis, dass ich versuchte, eine Frist zu einer nochmaligen Besprechung mit dem Verwaltungsrat vor dem Abschluss des Verfahrens durch die Gestapo zu erreichen. Im gleichen Augenblick trat in das Büro der Gestapo die Kommission zur Beschlussfassung über das Heim ein, geführt von dem Vorsitzenden der Gestapo Würzburg Polizeidirektor Wickelmayer und begleitet vom Oberbürgermeister der Stadt Schweinfurt. Ich trug den Herren meine Bitte vor um eine nochmalige Frist, die vom Polizeidirektor dahin beantwortet wurde, dass dazu keine Veranlassung vorliege, nachdem ein gültiger Beschluss gefasst sei. Er las denselben durch, wiederholte noch einmal seine eben geäusserte Anschauung, liess sich aber dann doch die Satzung des Vereines reichen, ging damit in ein Nebenzimmer, in welches auch die anderen Herren z.T. sich begaben und etwa nach einer Dreiviertelstunde bis Stunde kam Polizeidirektor W. wieder und sagte, er nehme an, dass der Verwaltungsrat in allen seinen G1iedern schliesslich doch nicht hinreichend genug über die Sachlage in Kenntnis gesetzt sei und er wäre bereit, Gelegenheit zu einer Sitzung im Laufe dieses Tages oder Abends noch eimal zu geben, bei der er selbst zugegen sein wolle. Ich erklärte ihm, dass für den Verwaltungsrat Darlegungen von der Leitung der Gestapo wichtiger sein müssten, als von einer nachgeordneten Stelle, wie es am Abend vorher geschen ist, besonders auch, das inzwischen vollzogene Verhör von Verwalter Habdank kennenzulernen uns wertvoll sei“.

Am Abend des gleichen Tages, ab 18 Uhr, kommt es im Zimmer 9 des Rathauses zur entscheidenden Sitzung.
Von Seiten des Hauses nehmen teil: Pfarrer Beyhl als Vorsitzender des Verwaltungsrats sowie dessen weitere Mitglieder Pfarrer Kressel, Kanzleirat Zorn, Privatier Karl Rose, Justizrat Karl Drescher, Kaufmann Rosa, Architekt Gassmann, Kaufmann Herrmann und Kommerzienrat Wirsing. Auch Dekan Fabri als Vertreter der Kirchengemeinde ist anwesend.

Außerdem von der Gestapo die Herren Polizeidirektor Wickelmeyer und –lt. dem Protokoll Pfarrer Beyhls- „ein weiterer uns dem Namen nach nicht bekannter Herr.“

Die Vorwürfe des Polizeidirektors Wickelmeyer gibt Pfarrer Beyhl so wieder:
Es sei lange Zeit hindurch eine Reihe schwerer unsittlicher Verfehlungen unter den Zöglingen vorgekommen und es herrsche in der Anstalt ein derartiger unsittlicher Zustand, dass eine Fortführung der Anstalt unter der bisherigen Leitung gar nicht mehr in Frage kommen könne, vielmehr die absolute Notwendigkeit einer zwangsweisen Auflösung für ihn gegeben sind....Er könne nur wiederholen, dass die unbedingte Notwendigkeit einer Auflösung des Vereins für ihn eine gegebene Sache sei, von der unter gar keinen Umständen abgegangen werden könne, es sei denn, dass der Verein sich freiwillig auflöse.“

 

Ausdrücklich betont Wickelmeyer, dass an die Herren des Verwaltungsrats „keine speziellen Vorwürfe“ zu richten seien, es aber an der nötigen Aufsicht gefehlt habe.

Pfarrer Beyhl fasst die Sicht des Verwaltungsrates wie folgt zusammen:

„Mit Rücksicht auf die dargestellte Sachlage kann der Verwaltungsrat Gründe zur Auflösung der Anstalt wegen der fraglichen Vorkommnisse niemals finden. Die Anstalt hat von Anfang an und jetzt Jahrzehnte lang bewiesen, dass sie aus vielfach verwahrlosten jungen Menschen ordentliche Menschen gemacht hat. Für Auswüchse von wenigen Einzelnen kann sie nicht verantwortlich gemacht werden. Die jetzt vorliegenden Angaben der Zöglinge, die den Herren der Verwaltung in kurzen Zügen mitgeteilt wurden, beweisen noch nicht, dass diese Angaben wirklich auf Wahrheit beruhen bzw. in diesem Umfang der Wirklichkeit entsprechen...“

Besonders Justizrat Drescher tritt im Raume stehenden Angriffen auf den Verwaltungsausschuß entgegen und verweist u.a. darauf, dass dessen Mitglieder „von derartigen Vorkommnissen nie etwas erfahren“ hätten. Auch spricht er sich gegen eine freiwillige Auflösung aus, „weil mit einer solchen der Verwaltungsrat wenigstens nach aussen hin, mehr oder weniger das Zugeständnis seiner Mitschuld“ abgebe.

Diese Einlassung veranlasst den Gestapovertreter zu einer „ungemein scharfen Erwiderung, die nach Auffassung der Mitglieder des Verwaltungsrates nicht berechtigt war.“

Wiederholte Bitten der Vertreter des Hauses, eine Verständigung der Verwaltungsratsmitglieder ohne Beteiligung der Gestapo-Mitarbeiter angehen zu können, werden von diesen kategorisch zurück gewiesen, Diskussion und Beschlussfassung müssen so unter den Augen der Gestapo stattfinden.

Letztlich sehen die Mitglieder des Verwaltungsrates angesichts der Alternative einer Zwangsauflösung, bei der alles Vermögen an den Staat fließt, keine andere Möglichkeit, als einstimmig die eingangs zitierte „freiwillige“ Auflösungserklärung zu unterzeichnen.

Im Rückblick stellt der Vorsitzende des Aufsichtsrates fest:
Die Not der Anstalt hängt zusammen mit der Not Rummelsbergs [von wo Hausvater und Erziehungshilfe „abgeordnet“ worden waren; d. Verf.] und der Kirche überhaupt, was den kirchlichen Nachwuchs betrifft; denn seit Jahren gestellte Bitten um Zuweisung eines zweiten Erziehungsgehilfen konnten nicht erfüllt werden und auch die Qualität der zugeteilten Gehilfen entsprach nicht der Aufgabe. Der oben geschilderte Ausgang ist zuletzt nur der Abschluß des Weges, auf dem eine konfessionell gehaltene Einrichtung verschwinden mußte.
Beyhl, Pfr.

Die Leitung des Heimes wird am 27.1.1940 von der Stadt Schweinfurt übernommen.
Als Liquidatoren werden Pfarrer Adam Beyhl, Kanzleirat Zorn und Kaufmann Otto Rosa eingesetzt. Der Hausvater Habdank wird kurz nach dem 25.01.1940 aus dem Gefängnis entlassen. Ungeachtet der gegen ihn von der Gestapo erhobenen Vorwürfe wird ihm angeblich eine Stelle bei der Kämmerei der Stadt angeboten. Statt diese anzunehmen, zieht er allerdings die Aufnahme einer anderen Tätigkeit in München zum 01.4.1940 vor.
Der Erziehungsgehilfe W. wird am 10.05.1940 vom Amtsgericht Schweinfurt wegen „Vergehens der gefährlichen Körperverletzung“ zu einer Geldstrafe von 55 RM -was einem Monatsgehalt von ihm entspricht- „oder 11 Tagen Gefängnis“ verurteilt.
Weitere Anklagen/ und Verurteilungen hat es offenkundig nicht gegeben.

 

Ergänzung:

Reaktion der Bayerischen Landeskirche

Deutliche Kritik – am Marienthal

Die Vorgänge um das Haus Marienthal Ende Januar 1940, die zwangsweise Auflösung des Trägervereins und die Schließung der Einrichtung, sorgen innerhalb der maßgeblichen Leitungsorgane der Evangelischen Landeskirche in Bayern für Furore.

Knapp zwei Wochen nach der Übernahme der Leitung durch die Stadt Schweinfurt teilt der Landesführer der Inneren Mission Bayern, Pfarrer Weichlein, dem Schweinfurter Pfarrer Beyhl am 9. Februar 1940 mit 1:
„Die Angelegenheit ist gestern Verhandlungsgegenstand im Landeskirchenamt gewesen. Befasst wurde mit der Sache der Herr Landesbischof persönlich [Hans Meiser, P.Ba.], der Herr Vizepräsident und Oberkirchenamtmann Dr. Karg.“
Ergänzend ist der Hinweis angefügt:
„Die angesprochenen Auffassungen werden voll und ganz auch vom 1. und 2. Vorsitzenden des Verbandes Bayer. Evang. Erziehungsanstalten geteilt.“

Die „angesprochenen Auffassungen“ enthalten deutliche Kritik am Vorgehen der Verantwortlichen in Schweinfurt.

Diese bezieht sich zunächst auf die Art der Informationübermittlung.
Es wird festgestellt, „dass der Landeskirchenrat zunächst nur telefonisch unterrichtet wurde“. Obwohl „der Herr Landesführer durch Rundschreiben vom 16. Mai 1939 an alle Dekanate die Vorlage aller Berichte über die Geschäftsstelle angeordnet hat. Ein Bericht an den Landeskirchenrat kann nicht als Ersatz angesehen werden.“

Gravierender ist, dass die Rechtmäßigkeit des Handelns des Verwaltungsrates allgemein und seines Vorsitzenden, Pfarrer Beyhls im Besonderen bestritten wird:

„Auch der Herr Landesführer hat eine Genehmigung zur Auflösung nicht erteilt. Nun ist aber der Verein Evang. Erziehungsantalt Marienthal E.V. durch eine ordnungsgemäß unterzeichnete Erklärung vom August 1934 dem Herrn Landesführer unterstellt.“
...

Auf alle Fälle hätte in Schweinfurt nach der Kirchlichen Ordnung vom 28.6.1934 II verfahren werden müssen. Das Ansuchen nach Auflösung wäre abzulehnen gewesen unter Hinweis darauf, dass der Verein nicht selbständig handeln kann und ein derartiger Beschluss von der Zustimmung des Herrn Landesführers abhängig ist. Zudem gewinnt man aus dem Bericht vom 27.I. den Eindruck, dass hinreichende Gründe für eine von der Staatspolizei beabsichtigte Schließung der Anstalt nicht vorhanden sind, nachdem das Erzieherpersonal für die Verfehlungen in sittlicher Hinsicht, die sich ausserhalb der Anstalt abspielten, nicht verantwortlich gemacht werden konnte und eine Überschreitung des Züchtigungsrechtes im schlimmsten Fall an dem Täter, nicht aber durch eine derartig einschneidende Maßnahme an der Anstalt geahndet werden kann. Durch den Hinweis auf die Genehmigung des Landesführers oder auch durch die Herbeiführung einer Entscheidung über Berlin wäre Zeit gewonnen. Diese Entscheidung wäre vermutlich anders als angekündigt ausgefallen, ganz abgesehen davon, dass der Reichserziehungsverband, der unter der ausgezeichneten Leitung von Pastor Fritz steht, hier massgeblich sich hätte einschalten können.“

 

Inwiefern Pastor Alfred Fritz, dessen „ausgezeichnete Leitung“ des Reichserziehungsverbandes hier gewürdigt wird, sich im Sinne der Einrichtung verwendet hätte, ist spekulativ. Es liegen nur wenige Informationen über die Person des Leiters des Reichserziehungsverbandes vor. Überliefert ist lediglich seine 1941 rückblickend erfolgte Einschätzung, wonach die evangelischen Anstalten „bereits vor der Machtübernahme Horte nationalsozialistischer Arbeit und nationalsozialistischen Ideenguts“ 2 gewesen seien.

Bereits Jahre zuvor -1937- hatte Fritz für Unruhen in kirchlichen Einrichtungen „die intensive Agitation kommunistischer Zersetzungsarbeit und der jüdischen Presse“ 2 verantwortlich gemacht. 3

Auch die Rücksichtnahme Pfarrer Beyhls auf die besondere Notlage des Hausvaters Habdank, dem nach seiner Gefangennahme eine lange Haftzeit drohte, wird von den Kirchenoberen –deren „eigene Ehre“ nach späteren Erkenntnissen nicht durchweg außer Zweifel stand- nicht goutiert: „Das persönliche Anliegen des Hausvaters darf in diesen sachlichen Auseinandersetzungen keine Rolle spielen. Schließlich hätte es dem Hausvater auch nicht in erster Linie um die Befreiung aus einer unangenehmen Situation sondern um seine eigene Ehre, die hier auf dem Spiel stand, gehen müssen.“

Abschließend wird wenig hoffnungsfroh festgestellt:
„Es ist für die beteiligten Stellen nachträglich sehr schwer, eine Änderung des von dem Verein geschaffenen Zustandes herbeizuführen.“

Wenige Tage nach dem zitierten Gespräch im Landeskirchenamt, am 13. Februar 1940, kommt es zu einer „Besprechung über die Auflösung der Evang. Erziehungsanstalt Marienthal in Schweinfurt“. 3 Teilnehmer in Nürnberg sind Pfarrer Beyhl, Konrektor Naegelsbach - Rummelsberg und Pfarrer Weichlein.

Dabei werden unterschiedliche Verständnisse der Unterstellungserklärung unter den Landesführer auf Seiten Pfarrer Beyhls und dem Vertreter der Inneren Mission deutlich.
„Im Verlauf der Unterredung stellt sich dann heraus, dass die Unterstellungserklärung nur vom Vorstand persönlich und vom Verwalter ohne Befragen des Ausschusses unterzeichnet worden ist. Damit ist jede Möglichkeit genommen, mit der Tatsache der Unterstellung unter den Herrn Landesführer für Innere Mission noch zu operieren.“

Pfarrer Beyhl versucht, sein und des Hausvaters Handeln zu erklären.
Bezüglich der von der GESTAPO erhobenen Vorwürfe wird lt. Protokoll der Besprechung von ihm festgestellt, dass Diakon Habdank auf dem Standpunkt gestanden sei, dass er zur Züchtigung berechtigt sei“.
Weiter wird festgehalten:
„. Die Untersuchungen der Staatspolizei haben jedoch folgende Beanstandungen ergeben:

  1. Der zu den Züchtigungen benützte Stock war 81 cm lang. Er hat also das erlaubte Mass um 21 cm überschritten.

  2. Die Zahl der Schläge war verschieden. Von den Zöglingen wurden 13, 14, 20 angegeben, während nur 6 erlaubt sind.

  3. Mädchen dürfen überhaupt nicht so geschlagen werden, wie es der Hausvater tat.

In sittlicher Hinsicht wurde nur die mangelnde Beaufsichtigung beanstandet. Außerdem wurde noch erwähnt, dass verwaiste und verwahrloste Kinder nicht hätten zusammengenommen werden dürfen.“

Kein Thema der Besprechung sind offenkundig die Bedingungen, unter denen die Arbeit in der Einrichtung stattfand, insbesondere fehlt jeglicher Hinweis auf die Tatsache, dass in diesem

 

Kriegswinter an die 90 „Zöglinge“ von einem engagierten Hauselternpaar und einem heillos überforderten „Erziehungsgehilfen“ zu betreuen waren.

Dem Hinweis, der Vorstand des Marienthals hätte versuchen müssen, „Zeit zu gewinnen“, begegnet Pfarrer Beyhl mit der Erklärung, „dass dem Vorstand nur auszugsweise von den Ermittlungen, die 150 Aktenseiten umfassten, Kenntnis gegeben worden sei und dass es für ein dilatorisches Verfahren weder eine Möglichkeit bestanden hätte, noch eine Gelegenheit gelassen wurde, und zwar einmal, weil die Unterstellung unter den Landesführer nicht in rechtlich einwandfreier Form erfolgt war und zum anderen, weil die Staatspolizei die Dinge in persönlicher Anwesenheit des Direktors der Würzburger Stelle mit grösster Beschleunigung weitertrieb.“

Die Kritik an der Haltung des Hausvaters lässt Beyhl „nur teilweise gelten, indem er einerseits auf die innere Verfassung desselben und andererseits immer wieder auf die seelsorgerliche Seite der Angelegenheit starkes Gewicht legt“.

Abschließendes Fazit der Besprechung:
„Wir mussten die Besprechung unter dem Eindruck schließen, dass die Anstalt für die Innere Mission nicht mehr wird zurück gewonnen werden können.“
(Unterschrift Pfarrer Weichlein).

Das Ende der Einrichtung scheint besiegelt.

Das Gebäude am Oberen Marienbach 7 beherbergt in den folgenden Monaten eine andere Institution: Die GESTAPO. Von 1940 bis mindestens zum 14. Oktober 1941 residiert hier die GESTAPO-Außenstelle Schweinfurt. 5

Quellen:
Staatsarchiv Würzburg

- Johannes Strauß, Gestapo im Marienthal
Wie das Erziehungsheim im Jahr 1940 geschlossen und enteignet wurde
in
Karl Werner Hoppe
Materialien zur Entwicklung der Evangelisch-lutherischen und der Katholischen Kirchengemeinden in Schweinfurt während des Dritten Reiches
Katalog zur Ausstellung der VHS Schweinfurt vom 04.12.1986 – 04.02.1987

- Bert Ackermann, 150 Jahre Haus Marienthal in Schweinfurt

Teil 2: Unterlagen zur Auflösung des Vereins und des Heimes
Liquidation - Übergabe an die Stadt Schweinfurt
https://www.schweinfurtfuehrer.de/geschichte/geschichte-des-hauses-marienthal/

Ergänzung – Anmerkungen:

- Akten der Gestapostelle Würzburg (1241, 4106, 5128, 6687, 7139, 7305, 8655, 8807 9388, 14113, 14274, 14403)
- NSDAP Gau Mainfranken mit Unterlagen der Kreisleitung Schweinfurt

 

1 Der Brief von Pfarrer Weichlein an Pfarrer Beyhl vom 9. Februar 1940 ist im Archiv der Evangelischen Landeskirche Nürnberg einsehbar

2 Aufblitzen des Widerständigen: Soziale Arbeit der Kirchen und die Frage des Widerstands während der NS-Zeit
Hg. Von Andreas Lob-Hüdepohl, S. 77

3 Fritz am 27. Januar 1937 in einem Brief an den Vorsitzenden des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages, Pastor Wolff, zitiert nach:
Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat: Die NSV und die konfessionellen Verbände ... Peter Hammerschmidt, S. 522

4 Archiv der Evangelischen Landeskirche Nürnberg; Protokoll der „Besprechung über die Auflösung der Evang. Erziehungsanstalt Marienthal in Schweinfurt“ am 13. Februar 1940

5 Vgl. Herbert Schott, Die ersten drei Deportationen mainfränkischer Juden 1941/42, in: Wege in die Vernichtung. Die Deportation der Juden aus Mainfranken 1941-1943. Begleitband zur Ausstellung des Staatsarchivs Würzburg und des Instituts für Zeitgeschichte, München 2003, S. 73- 166, hier: S. 74.

[Hervorhebungen im Text durch Fettdruck sowie Einschübe in eckigen Klammern durchweg durch den Verfasser]

Danksagung:

Die zitierten Dokumente konnten vor allem durch die Unterstützung der Damen Dr. Heeg- Engelhard und Dr. Hien vom Würzburger Staatsarchiv, von Kirchenarchivoberrat Dr. Jürgen König vom Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Nürnberg) und von Frau Diakonin Martina Fritze von der Rummelsberger Diakonie zugänglich gemacht werden.

Herzlichen Dank allen!

Peter Baltes

peterbaltes@web.de

 

Wiedereröffnung 1950

 

 

Der Weg zur Wiedereröffnung 1950

Im Januar 1940 scheint das Ende des Marienthals besiegelt.

Das Land befindet sich seit wenigen Monaten im Krieg. Die politischen Machtverhältnisse auch in Schweinfurt sind scheinbar auf unabsehbare Zeit geklärt, für eine Einrichtung wie das Marienthal sehen sie keinen Raum vor.

 

 

Aber es kommt anders.
Das „Tausendjährige Reich“ währt keine tausend Jahre.

 

 

Bei insgesamt 21 Luftangriffen werden nahezu 1100 Bewohner der Stadt getötet. 1556 Menschen werden als Angehörige der Wehrmacht im Krieg getötet oder vermisst.

 

Vielen Menschen bleibt nur die Flucht aus der Stadt. Die Einwohnerzahl, die 1940 noch bei 48.000 lag, reduziert sich im April 1945 auf 23.579. Im Laufe des Krieges wird knapp die Hälfte des Wohnraumes zerstört, Infrastruktur und Industrie sind zu großen Teilen vernichtet.

Am 11. April 1945 marschieren US-Streitkräfte in der Stadt ein, der Schweinfurter Oberbürgermeister Pösl übergibt die Stadtverwaltung persönlich an die US-Armee, noch am gleichen Tag nimmt er sich das Leben.
(Näheres:
https://www.schweinfurtfuehrer.de/geschichte/1926-1945/)

Angesichts der vielfältigen existenziellen Nöte, denen sich die Menschen in Schweinfurt 1945 ausgesetzt sehen, kann es nicht verwundern, dass es Jahre dauern wird, bis das Marienthal seine geraubten Rechte wiedererlangt.

Wichtige Stationen auf dem Weg dahin:

Bereits am 21. Mai 1945 wendet sich Pfarrer Beyhl, der letzte Vorsitzende des Verwaltungsrats der Einrichtung mit einem Brief an den OB der Stadt Schweinfurt, an die ja das gesamte Vermögen des Vereins übergegangen war und betont:

„...dass die Auflösung des Vereins „Evang. Erziehungsanstalt Marienthal“ unter Zwang der Gestapo geschehen ist. Dieser allerdings kam es im Zuge der damaligen Bekämpfung aller kirchlichen Arbeit nur darauf an, diese Stätte kirchlich geleiteter Tätigkeit aufzuheben. Denn nachdem die Auflösung beschlossen war, wurden weder Hausvater und Hausangestellte noch Zöglinge wegen der angeblichen Misstände strafrechtlich verfolgt, wie es doch von der Gestapo angekündigt wr; Vielmehr wurde der Hausvater zur Bearbeitung des Auflösungsaktes durch Gestapo und Stadt bestellt und die ausgezeichnete Führung der Anstalt nach der wirtschaftlichen Seite ausdrücklich anerkannt. Es wurde dem Hausvater wegen seiner vorzüglichen Arbeit sogar in der Stadtkämmerei eine Stelle angeboten, die er allerdings mit Solz ablehnte.

Der Verwaltungsrat, ja über ihn hinaus die Evang. Gemeinde und die Öffentlichkeit haben das Vorgehen der Gestapo als ungeheuerlichen Rechtsbruch empfunden und als ein Erpressung betrachtet.“

Sein Schreiben an den OB zielt auch darauf, der amerikanischen Militärregierung gegenüber die Ansprüche der Einrichtung geltend zu machen.

Nachdem sich in der Sache längere Zeit nichts bewegt, legt Pfarrer Beyhl am 5. Dezember 1945 mit einer Anfechtungserklärung an den Schweinfurter OB nach, in der er vor allem hervorhebt, dass die Entscheidungen am Abend des 25. Januar 1940 („freiwillige Selbstauflösung des Vereins“) „unter Zwang geschehen und deshalb ungültig“ seien.

Schließlich wendet sich Pfarrer Beyhl am 2. Mai 1946 direkt an die amerikanische Militärregierung. Zuvor hatte die Stadt etwas zum damaligen Zeitpunkt Unmögliches verlangt: Die Neugründung des Vereins - obwohl die dafür nötige Abteilung Registergericht beim Landgericht noch gar nicht wieder eingesetzt sei.

Ich ersuche nun die Amerikanische Militärregierung sich dieser Sache freundlich annehmen zu wollen und diesem Verein Evang. Erziehungsanstalt Marienthal Genehmigung zu erteilen.“

Am 27. Juni 1946 ist es schließlich wo weit. Major Glenn M. Marsh teilt für die Militärregierung Schweinfurt Stadt/Land dem Oberbürgermeister der Stadt, Dr. Ignaz Schön, mit:

 

„Hiermit wird die Erlaubnis zur Wiedereröffnung des Waisenhauses Marienthal [Im Original: Orphans Institute Marienthal, d. Verf.] gewährt.
Sie sind dafür verantwortlich zu prüfen, dass die Mitglieder politisch einwandfrei sind.

Etwas mehr als ein Jahr später, am 16. Oktober 1947, kommt es zur Neugründung des Vereins. Es wird eine Satzung beschlossen und ein Vorstand gewählt. Dieser besteht aus drei Personen:
- Pfarrer Heinrich Schorn, 1. Vorsitzender
- Pfarrer Karl Rohrbacher, 2. Vorsitzender

- Amtsvorstand Arnold Kompe, Kassier

Pfarrer Beyhl, der vor der erzwungenen Vereinsauflösung jahrelang eine maßgebliche Rolle als Vorsitzender des Vereins und schließlich auch bei dessen Liquidation gespielt hatte, sieht sich in der Nachkriegszeit zunächst unerwartet in kraftraubende und langwierige juristische Auseinandersetzungen verwickelt (s. Anhang):

Auf der Grundlage des „Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946“ (Stichwort „Entnazifizierung“), finden politische Überprüfungen statt. Bei diesen Verfahren wird der später bei der Neugründung zum ersten Vorsitzenden des Vereins gewählte Pfarrer Heinrich Schorn –ebenso wie Pfarrer Rohrbacher- bereits am 26.9.1946 der „unverfänglichen“ Kategorie 5 zugeteilt („Entlastete, die vom Gesetz nicht betroffen sind“).

Anders ist es bei Pfarrer Beyhl, dem zunächst in einem „Sühnebescheid“ der Spruchkammer Schweinfurt-Stadt- (Aktenzeichen 634) am 1. Oktober 1946 eröffnet wird:
„ 1. Sie werden in die Gruppe der Mitläufer eingereiht.

2. Es wird gegen Sie eine Geldsühne von RM 1.000 festgesetzt“

Als belastend wird angeführt, dass er „Förderndes Mitglied der Allg. SS von 1934-38“ gewesen sei und bis 1944 zwei weiteren NS-Organisationen –der Volkswohlfahrt (NSV) und der Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung (NSKOV) – angehört habe.

Nach einer strapaziösen, über Monate von schriftlichen Eingaben, Widersprüchen und Berufungen geprägten Zeit kommt es schließlich zur Korrektur dieser Entscheidung.
Der Schweinfurter Senat der Würzburger Berufungskammer stellt am
12. Mai 1948 fest:
Pfarrer Adam Beyhl ist vom Befreiungsgesetz v. 5.3.46 nicht betroffen“

Diesem Spruch der Berufungskammer liegt zum einen die Erkenntnis der weitgehenden Haltlosigkeit der gegen Pfarrer Beyhl erhobenen Vorwürfe zugrunde. Die von ihm geleisteten Beitragszahlungen an die Allg. SS und die NSV von jeweils einer Reichsmark im Monat konnten weder vom Umfang als auch den Begleitumständen her ernsthaft als „Unterstützung des Nationalsozialismus“ gewertet werden. Ebenso wenig die Mitgliedschaft in der NS- Kriegsopferversorgung, zumal diese für ihn als Schwerkriegsbeschädigter des ersten Weltkrieges seinen Angaben zufolge Voraussetzung für den Erhalt staatlicher Hilfen (Heilkuren, Aufenthalten in entsprechenden Erholungsstätten) war.
Zum zweiten trägt die Entlastung durch die Berufungskammer dem Umstand Rechnung, dass sich Pfarrer Beyhl als Mitglied der Bekennenden Kirche durch eine Reihe von Aktionen
-entsprechende Bestätigungen von Zeugen legt er vor- wiederholt in Opposition zu den nationalsozialistischen Machthabern begeben hatte.
Bereits im März 1946 hatte er beteuert:
„Ich habe privat und beruflich immer wieder darauf hingewiesen, wie sich Volk und Führung immer weiter von Gottes Gebot und Willenentfernte und habe vor dem gottlosen und antichristlichen Geist gewarnt der sich in materialistischer Auffassung in den rassischen Bestrebungen und den kirchenfeindlichen Kämpfen der Bewegung äußerte. Jeder

 

kann mir bezeugen, daß ich das Heil unseres deutschen Volkes nie in den Wegen der nationalsozialistischen Führung, der Partei, SS und SA gesehen habe.“

Schließlich tritt Pfarrer Beyhl am 17. Dezember 1948 erneut an die Stelle von Pfarrer Schorn als 1. Vorsitzender des mittlerweile neu gegründeten Vereins.

Mit der Neugründung des Vereins „Evang. Erziehungsanstalt Marienthal e.V., Schweinfurt“ ist eine wichtige Voraussetzung für die „Anmeldung des Rückerstattungsanspruchs gegen die Stadtgemeinde Schweinfurt und das Land Bayern“ geschaffen, die dann am 15. Dezember 1948 mit einem Schreiben an das Zentralmeldeamt Bad Nauheim erfolgt.

Zur Begründung wird darin u.a. ausgeführt:

„Durch die Behauptung, dass sittliche Verfehlungen im Heim die Auflösung des Heimes unwiderruflich notwendig mache, hat die Gestapo unter Druck die Auflösung des Vereins erpresst.
„Es besteht die Vermutung, dass die seinerzeitige Stadtverwaltung unter Vorschiebung der Gestapo oder mit deren Hilfe die Auflösung des Vereins herbeiführen liess“

„Eine Verfolgung aus Gründen der Religion und der Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus ist hier gemäß Artikel 1 gegeben, zumal die grössere Anzahl der Herren des seinerzeitigen Verwaltungsrates aktiv in der Bekennenden-Kirche mitarbeiteten. Von seiten der NSDAP wurden einzelne Herren ständig bespitzelt.“
Vor allem folgende Forderungen werden erhoben:
„Wir verlangen Rückerstattung in Natura bezüglich der Gebäude, Grundstücke [wie es sie in Schweinfurt, Oberndorf, Niederwerrn, Mainberg, Sennfeld, Schonungen gibt, der Verf.], Wertpapiere, Inventar.
Wir verlangen Ersatz für alle uns entgangenen Nutzungserträge (Mieten, Pachten, Zinsen, sonstige wiederkehrende Zahlungen)
Wir fordern Rückgabe der Vereinsakten, soweit sie noch vorhanden sind.„

Unter Verweis auf einen aktuellen Fall wird in den abschließenden Sätzen des Schreibens neben allen juristischen Fragen auch die gesellschaftspolitische Dringlichkeit des Anliegens der Vereinsvertreter hervorgehoben:
„Die Not unserer Jugend, die durch die Tat des Mörders H. gekennzeichnet ist, verlangt gebieterisch ein Handeln. Auch sein Abgleiten auf die Verbrecherbahn hätte verhindert werden können, wenn der eltern- und heimatlose Jugendliche Aufnahme in einem Heim hätte finden können.

Die fluktuierende Jugend hat in Schweinfurt ihr Unterkommen in einem Bunker, in dem auch gleichzeitig Strafgefangene untergebracht sind.
Wir bemühen uns seit langem mit der Stadt Schweinfurt zu einer Einigung zu kommen, die jedoch bis jetzt leider noch nicht zustande kam. Die von ihr zwangseingewiesenen Mieter wurden trotz aller Vorstellungen noch nicht wieder aus dem Gebäude herausgenommen. Es wird deshalb gleichzeitig um die Auflage für die Stadt gebeten, das Gebäude für die Anstaltszwecke befristet frei zu machen.“

Die Anmeldung des Rückerstattungsanspruchs kann allerdings nur ein erster Schritt hin zur endgültigen Wiedergutmachung sein.

Die Stadt hat das Gebäude Am Oberen Marienbach 7 der nachkriegsbedingten Wohnungsnot geschuldet vermietet, andere Immobilien verpachtet. Zahlreiche Details bleiben zwischen Verein und Stadt strittig.

 

Schließlich gelingt –am 4. April 1950- ein Vergleich, das Haus und der zugehörige Besitz werden am 19. April 1950 zurück gegeben. Während des ganzen Verfahrens macht sich der Kirchensteueramtmann –und Vereinskassier- Arnold Kompe, der bereits am 15. Mai.1948 zum Treuhänder für das Marienthal-Vermögen bestellt wurde, in besonderer Weise um die Interessen der Einrichtung verdient.

Zum 1. Juli 1950 wird schließlich nach mehr als 10jähriger Unterbrechung das scheinbar Unmögliche möglich: Die Wiederaufnahme der alten Zweckbestimmung.

 

 

Anhang:

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Quellen:
Staatsarchiv Würzburg

 

- Wiedergutmachungsbehörde IVa 1783 (Erziehungsanstalt Marienheim gegen Stadt Schweinfurt, 1948-1950)

- Finanzamt Würzburg Vermögenskontrollakten 273

 

 

Danksagung:

Herzlichen Dank besonders an die ehemalige Leiterin des Staatsarchivs Würzburg, Frau Dr. Heeg- Engelhard und an Kirchenarchivoberrat Dr. Jürgen König vom Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Nürnberg), die maßgeblich an der Suche nach den ausgewerteten Dokumenten behilflich waren.

Wichtige Hinweise gaben dankenswerterweise die beiden Schweinfurter Pfarrer Bert Ackemann und Dieter Schorn.
Dank zu sagen ist auch Herrn Rechtsanwalt Peter Hofmann, der auf seinen wunderbaren Internetseiten zur Geschichte Schweinfurts (
https://www.schweinfurtfuehrer.de) neben einer Fülle von Informationen auch zahlreiche Fotos veröffentlicht hat und dem Stadtarchiv Schweinfurt für die Erlaubnis zur Verwendung der hier abgedruckten Bilder.

Peter Baltes

peterbaltes@web.de

 

 

Hans Habdank

 

Hausvater in schweren Zeiten

Der Name Habdank ist weit über den Bereich der evangelischen Kirche hinaus im In- und Ausland bekannt. Verbunden wird er meist mit der Erinnerung an die Holzschnitte, Gemälde, Aquarelle, Lithographien und Glasfenster des in Schweinfurt geborenen Künstlers Walter Habdank.1 Zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten ist demgegenüber dessen Vater Hans Habdank, der zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der langen Geschichte des Haus Marienthal gehört.

Gemeinsam mit seiner Ehefrau Anna fungierte Hans Habdank in einer besonders schwierigen Zeit - in den Jahren von 1931 bis 1940-, als Hauseltern-Paar.

 

Hans Habdank
Hans Habdank
Hans Habdank April 1949
Hans Habdank April 1949
Hans und Anna Habdank Sommer 1953
Hans und Anna Habdank Sommer 1953

 

Biografisches/erste berufliche Erfahrungen

Hans Habdank wird, „am 23. September 1900“ -wie er in seinem handschriflichen Lebenslauf anlässlich seiner ersten Stellenbewerbung anführt- „als Sohn der Arbeitereheleute Johannes und Anna Habdank in Ulm an der Donau geboren“. Mit knapp 20 Jahren schließt er sich der Rummelsberger Brüderschaft an. Ende 1926 heiratet er Anna Strobel. Der Ehe entstammen die Kinder Martin (geb. 01.09.1928), Walter (geb. 05.02.1930) und Hildegard (geb. 28.09.1934).

Erste berufliche Erfahrungen sammelt Hans Habdank ab 1. März 1924 als Kanzleigehilfe des Kreisdekans in Bayreuth und anschließend als Jugendpfleger und Bundessekretär des Jugendbundes der Evangelischen Arbeitervereine, zunächst in Nürnberg-Gibitzenhof, dann -ab 15. November 1927– in Schweinfurt. „Diakon H hat eine ausgesprochen Begabung für die Jugendpflege.“ attestiert ihm im Vorfeld der Rummelsberger Rektor Karl Nicol in einem Schreiben an den Ev.-luth. Landeskirchenrat München2.

1931: Eine neue Aufgabe im Haus Marienthal

Anfang 1931 beschließt der Verwaltungsrat der „Erziehungsanstalt Marienthal“ eine wesentliche Änderung: Aus der zuvor geschlossenen wird eine halboffene Einrichtung.3 Verbunden mit der Umwandlung ist ein personeller Wechsel. Ab dem 1. April 1931 wird die Einrichtung nicht mehr durch einen Lehrer geführt, sondern von einem Hauselternpaar. Dass dabei die Wahl auf die Eheleute Habdank fällt, liegt auch daran, dass beide aufgrund ihrer „Vorbildung in der Lage“, gesehen werden „sowohl den Verkehr mit den Ämtern als auch die Verwaltung des Heimes und besonders die Fürsorge und Erziehung der Kinder aufs beste wahrzunehmen.“ Dabei wird auch berücksichtigt, dass Anna Habdank „als staatlich geprüfte Handarbeitslehrerin an der evangelischen Töchterschule in Nürnberg und an der Kreistaubstummenanstalt in Bayreuth den Beruf ausübte“.4

Wie beschwerlich der Start im neuen Aufgabenfeld ist, macht der junge, gerade 30 Jahre alte Hausvater in einem Brief an den Rummelsberger Rektor Karl Nicol am 6. April deutlich:
„Es ist für uns ein überaus schwerer und harter Anfang und dankbar sind wir, dass wir diesen Dienst nicht selbst gesucht haben. Die angefangene Arbeit stellt eine große seelische Belastung dar. Das Haus und der ganze Betrieb sind derart heruntergekommen, dass wir uns immer wieder fragen, wie Menschen so gewissenlos handeln konnten. Es gebricht am Nötigsten in jeder Beziehung. Alle Räume starren vor Schmutz; ein großer Teil der Einrichtungsgegenstände ist unbrauchbar. Am schlimmsten waren die armen Kinder daran, die sich vollständig selbst überlassen waren und geradezu verwahrlost sind. Was ein Mädchen neulich unaufgefordert sagte, es war schon eine 18Jhrg., F`s
[hier ist im Original der Klarname der „Vorgänger“ genannt, P.Ba.] haben keine Liebe zu uns gehabt, das schnitt mir tief ins Herz. Die grosse Liebe, soweit wir armen Menschen lieben können, in diese Menschenherzen einzustreuen ist unsere Aufgabe. Wir sind froh, dass wir diesen Dienst tun dürfen, dass wir an unsterblichen Menschenseelen Pflichten erfüllen dürfen.“5

Sein Arbeitsethos formuliert er in einem Beitrag im Schweinfurter Tagblatt einige Jahre später wie folgt:
„Grundpfeiler in der Erziehung ist die Aufgabe der Erzieher, zu den ihm anbefohlenen Menschen das rechte Vertrauen zu gewinnen, das in gegenseitiger Liebe und Achtung gipfelt. Dieses gegenseitige Vertrauen gilt es täglich neu zu erringen und das ist in einem Heim nicht leichter als in einer Familie. Und alle großen und kleinen Ereignisse, froher oder ernster Natur müssen dazu helfen, das gegenseitige Sichverstehen zu fördern. Wohl bleiben Enttäuschungen nicht aus, denn unsere Heimjugend besteht nicht aus fertigen Menschen –wer wäre es wohl?- und die Erzieher haben ebenfalls die Pflicht der täglichen Selbstprüfung. Das Erziehungsheim, wie es Marienthal darstellt, ist eine große Familie. Freud und Leid wird miteinander geteilt.“
6

 

 

1932: Ein tragischer Unfall – Öffentliche Anfeindungen

Im Mai 1932, die Hauseltern sind gerade einmal ein reichliches Jahr im Amt, erschüttert ein schwerer Unfall die Einrichtung. Vier Knaben, beaufsichtigt von einem Erziehungsgehilfen, bekommen auf dem Main „in einem unbeobachteten Moment von einem jugendlichen auswärtigen Schiffers Gelegenheit zur Benützung eines Kahns“. In der Folge ertrinkt einer von ihnen, ein des Schwimmens nicht mächtiger 13jähriger, in Würzburg geborener Junge.7 Obwohl den Hauseltern redlicherweise keinerlei Pflichtverletzung zur Last gelegt werden kann, wird auch dieser tragische Unglücksfall wenige Monate später auf infame Weise genutzt, um Hans Habdank in eine politisch motivierte Auseinandersetzung zu ziehen und durch Kräfte der aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung zu beschädigen.

Ausgangspunkt ist im November 1932 die öffentliche Aufforderung einer Schweinfurter Bürgerin, der Stadtrat möge sich um Vorgänge im Haus Marienthal kümmern. Diese Bürgerin will bei einem Spaziergang im Bereich des Marienthals aus dem Haus das „Horst-Wessel-Lied“gehört haben, was sie auch wegen ihrer Vermutung, dass sich „unter den Zöglingen auch Kriegerwaisen befinden“, empört habe.

Hans Habdank reagiert unmissverständlich, bedauert den Vorfall, entschuldigt sich öffentlich und betont, dass der Leitung des Hauses daran liege, parteipolitisch unabhängig zu sein.

Ein Zeitungsartikel, der im Archiv der Evangelischen Landeskirche einsehbar ist –allerdings leider ohne genauere Quellenangabe und Datum-, nimmt zu dem Vorgang unter der Überschrift „Erbauliches aus der Erziehungsanstalt Mariental“ Stellung, gespickt mit gehässigen, ehrabschneidenden und persönlich herabsetzenden Sottisen. Folgende ausführlichen Auszüge machen deutlich, dass Hans Habdank schon sehr früh -und lange vor der Schließung der Einrichtung im Jahre 1940- ins Visier von Nationalsozialisten geraten ist:

 

 

Auszüge:
„Da sich aber die Leitung dieses Erziehungsheimes veranlasst fühlte, die Anprangerung... mit einer demütigen Entschuldigung zu beantworten, um bei dieser Gelegenheit den bei ihr verhassten Nazis einen Hieb zu versetzen, müssen wir wohl oder übel auch unsere Meinung über die Anstaltsleitung aussprechen.
Die Leitung der Anstalt beeilte sich sofort, Ihre und die Ehre dieser Pastoren zu retten, indem sie erwiderte, „dass sie den Vorkommnissen durchaus fern steht und sie bedauert. Sie sei bestrebt, aus der Anstalt alle politischen Einflüsse fern zuhalten und rücke weit ab von der politischen Verhetzung der Jugend durch die Nazis, sei aber gegenüber dieser Verhetzung durch Außenstehende machtlos.
Sehr geehrte Leitung, alle Achtung vor Ihrer gewissenhaften Leitung Ihrer Zöglinge.
Wir müssen aber doch die Frage an Sie stellen: Wie ist es denn möglich, dass Ihre Zöglinge durch Außenstehende verhetzt werden?
Dazu ist zu bemerken, dass es nach dem Abgange des früheren Direktors völlig verkehrt war, die zwei evangelischen Schulstellen, die in der Anstalt waren und vom Staate bezahlt wurden, einfach aufzugeben. Vermutlich ist das hauptsächlich deshalb geschehen, um einige Rummelsberger Brüder mehr anstellen zu können, mit denen vorausichtlich leichter gearbeitet werden konnte, als mit ausgebildeten Lehrern.
Wir erinnern uns, dass vor wenigen Monaten ein armer verwaister Zögling Ihrer Anstalt im Maine ertrunken ist und einige nur mit knapper Mühe gerettet werden konnten. Da steigt doch unwillkürlich die Frage auf, ob da alles mit der Leitung in Ordnung sein kann.
Dass dem nicht so ist, bekennen Sie selbst mit den Worten „Dass die Leitung machtlos sei“. Wir zweifeln nicht an der Wahrheit dieses Bekenntnisses. Aber es ist doch ein trauriges Armutszeugnis. Wo bleibt da der erzieherische Wert der Anstalt?
Sind die armen Kinder vielleicht vom Regen in die Traufe gekommen? Und nun kommt die Hauptsache:
Wir fordern Sie auf, für Ihre Anklage: „politische Verhetzung der Jugend durch die Nazis“ die klaren Beweise zu bringen. Das können Sie nicht.
Wir wissen, was Sie meinen. Sie bezeichnen unsere Freiheitsbewegung, die gar nicht anderes kann, als deutsches Empfinden und Denken auch in unserer Jugend wachzurufen als Verhetzung. Wir freuen uns, dass das anscheinend von Ihren Zöglingen besser verstanden wird und Sie in diesem Punkte wirklich „machtlos“ sind. Den armen Kindern ist das von Herzen zu gönnen. Aber wir begreifen auch recht gut, dass Sie von uns weit abrücken.
...
Ferner hatte Herr Habdank das bewunderungswürdige Selbstbewusstsein aufgebracht, sich bei der letzten Landtagswahl als Kandidat für den Volksdienst sich aufstellen zu lassen. Er soll das auch fernerhin tun! Wir lächeln nur still zufrieden darüber; denn diese Kandidatur ist ein Beweis dafür, wie viel der Volksdienst zu bedeuten hat. Aber zugleich möchten wir bissig bezweifeln, dass bei einer solchen hervorragenden politischen Stellung des Herrn Habdank in seiner Erziehungsarbeit es ihm wirklich möglich ist, „aus der Anstalt allen politischen Einfluss fern zu halten.“ Er scheint dabei freilich mit dem, was er wohl möchte, noch weniger Erfolg in seiner Anstalt zu haben, als er außerhalb derselben hat. Denn da ist er sehr eifrig für den christlichen Volksdienst tätig, woraus wir schließen möchten, dass seine Zeit und Kraft in der Anstalt nicht bis zum Erschöpftwerden in Anspruch genommen wird. Er ist es wohl auch gewesen, auf dessen Veranlassung bei der letzten Reichspräsidentenwahl vor den Türen der evangelischen Kirchen an die Kirchenbesucher Flugblätter verteilt wurden, in denen die schändlichsten Lügen und Verleumdungen über unsere Bewegung und Adolf Hitler zu lesen waren. Das war eine von evangelisch sein wollender Seite ausgegangene Entwürdigung unseres Sonntags und unserer Gottesdienste, wie sie unseres Wissens keine andere Partei sich geleistet hat. Die gerechte Empörung darüber ist auch nicht ausgeblieben.“

 

Der Artikel endet mit einer Warnung:
„Aber wir wollen sagen: Bedanke sich die Leitung des Marienthals bei sich selber, wenn sie sich bei ihren Angriffen auf uns die Finger verbrennt. Nach Stoff zum kräftigen Einheizen werden wir nicht lange zu suchen brauchen.“
8

 

 

 

Kontinuierliches Problem: Personalnot

Leidiges Dauerthema während der ganzen Zeit Hans Habdanks im Marienthal bleibt die unzureichende personelle Ausstattung der Einrichtung, verbunden mit dem stetigem Wachstum der Zahl der zu betreuenden Kinder und Jugendlichen. Immer wieder schreibt der Hausvater an den Rummelsberger Rektor Nicol und bittet um dringend benötigte Kräfte. So etwa auch im April 1936: „Wir haben in unserem Heim heute 60 Kinder und Jugendliche und sind dankbar dafür. Aber unmöglich können wir mit der Zahl der Mitarbeiter zurecht kommen, soll nicht die ganze Arbeit Schaden leiden. Wir sind auch bei normaler Besetzung alle schon bis aufs Äusserste angespannt und nicht in der Lage, dauernd diesen Zustand zu ertragen.“9 Die vorhandenen Mitarbeiter sind überlastet, teilweise vergehen für sie Jahre, ohne dass sie Urlaub nehmen können. Insbesondere Einberufungen von Mitarbeitern zum Arbeits- und Militärdienst, aber auch die Abberufung von Brüdern, die in Rummelsberg am Unterricht teilzunehmen müssen, stehen einer zumindest halbwegs befriedigenden Lösung im Wege. Und: Auch in Rummelsberg sieht man sich personell „in höchster Not“.10 Der Weg über die staatliche Arbeitsverwaltung erweist sich bereits früh als nicht gangbar: „...wenn ich beim Arbeitsamt, das die Stellenvermittlung hat, Versuche unternehme, so werden mir die unmöglichsten Gestalten präsentiert. Abgesehen von der Leistungsfähigkeit, ist doch bei unserer Arbeit in besonderem Masse die Gesinnung massgebend.11

Den personellen Nöten steht im Sommer 1938 entgegen: „Es sind z.Z. 86 Kinder im Heim, davon allein 56 Knaben.“ 12

Vereinzelt sind es auch schmerzliche, das Gewissen der Verantwortlichen im Marienthal stark herausfordernde Rücksichtnahmen auf die politischen Verhältnisse im Lande, die sinnvolle personelle Ergänzungen verhindern. So sehen sich Hans Habdank und der Vorsitzende des Verwaltungsrates des Hauses, Pfarrer Beyhl im Oktober 1938 gezwungen, einem Schuhmachermeister und dessen Familie eine mögliche Anstellung zu verweigern. Die Leute, -der Mann war andernorts infolge missliebiger politischer Äußerungen umgehend arbeitslos geworden und kann „Erfahrungen in der Erziehungsansstalt Fasoldshof“ aufweisen-, werden von Pfarrer Nicol empfohlen:

„Die Familie macht, nach dem, was ich gehört habe, einen ausgezeichneten Eindruck. Die Frau ist sehr fleißig. Sie hat neben ihrer Arbeit in ihrem eigenen Haushalt auch auswärts gearbeitet. Er ist eine ernste, christliche Persönlichkeit, die ganz und gar für Christus und die Kirche lebt“
Weiterhin gibt er zu bedenken:

„Sie hätten dann einen ständigen Erzieher und Schuhmachermeister, könnten einige der Buben im Haus anlernen lassen.“13

In ihrem abschlägigen Bescheid an Pfarrer Nicol verweisen Hausvater Habdank und Pfarrer Beyhl (in einem der extrem seltenen, gemeinsam unterzeichneten Antwortschreiben) auf absehbare negative Folgen einer Beschäftigung:
„Es ist wohl mit Sicherheit zu sagen, dass bei Abmeldung des W. nach Schweinfurt sofort auch dessen politische Beurteilung hieher an Behörden und Partei weitergegeben wird. Die Folge davon wäre, dass Marienthal als kirchlich geführte Anstalt nur zu leicht gebrandmarkt würde als Unterschlupf für staatlich Unzuverlässige. Das wäre bei unserer Stellung zu kirchlichen und staatlichen Stellen eine nicht geringe Belastung, für unseren Betrieb unter Umständen ein Versagen der weiteren Zuweisung von Fürsorgefällen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass unser Heim nicht-kirchlicher Gründung ist, sondern Gründung und Objekt des Johannis-Zweigvereins. Wie leicht könnte eine menschlich und christlich so naheliegende Hilfe wie im Falle W. städtische und

 

staatliche Stellen veranlassen, die Verwaltung und den Betrieb des Heimes zu entziehen und der NSV zu übergeben.“14

 

 

 

Januar 1940: GESTAPO im Haus

Die hier demonstrierte Rücksicht auf mögliche staatliche Reaktionen erweist sich als nur begrenzt erfolgreich: Knapp 15 Monate nach dem zitierten Schreiben erscheint die GESTAPO Ende Januar 1940 im Marienthal und leitet die über zehn Jahre währende Schließung der Einrichtung ein. (Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse dieser Tage findet sich im Beitrag des Verfassers „Januar 1940: Dem Ende sehr nahe - Daten zur Schließung der Einrichtung“).

Hans Habdank wird weggeführt, wiederholt verhört und in „Schutzhaft“ genommen. Pfarrer Beyhl, der Vorsitzende des Verwaltungsrats, berichtet später: „...dem Heimleiter Habdank scheint gesagt worden zu sein, dass er nur aus der Haft entlassen werden könnte, von der Gestapo aus, wenn wir Selbstauflösung beschlossen hätten. So aber müsste er 6 Wochen oder vielleicht auch länger festgehalten werden, bis die Sache der Beschlagnahme und die gewaltsame Auflösung des Vereins durch das Reich geschehen sei.“

In der Folge realisiert der Verwaltungsrat notgedrungen die Auflösung des Vereins. Hans Habdank wird aus der Haft entlassen.

Für die auch in seinen Verantwortungsbereich fallenden Vorwürfe der GESTAPO – Überschreitung des „Züchtigungsrechts“ und „sittliche Verfehlungen“ der Kinder und Jugendlichen untereinander- erbringen die GESTAPO-Verhöre keine Tatsachen, die den Hausvater nachhaltig belasten. Der langjährige ehemalige Schweinfurter Dekan, Dr. Johannes Strauß, stellt entsprechend fest:

„Es wäre gänzlich verfehlt, sich bei den damaligen Begründungen für die Wegnahme des Heims aufzuhalten. Sie gehören in den Bereich der Verleumdungen, durch die sich die Nationalsozialisten gar noch als Sittenwächter aufspielten und die Verleumdeten von vornherein in die Peinlichkeit der Defensive drängten...Man wollte die Kirche treffen, deren öffentliches und soziales Wirken unterbinden und sich am Kirchengut bereichern.“15

Und:
„Nachdem die Auflösung beschlossen war, wurden weder Hausvater und Hausangestellte noch

Zöglinge wegen der angeblichen Mißstände strafrechtlich verfolgt, wie es doch von der Gestapo angekündigt war. Vielmehr wurde der Hausvater zur Bearbeitung des Auflösungsaktes durch Gestapo und Stadt bestellt und die ausgezeichnete Führung der Anstalt nach der wirtschaftlichen Seite ausdrücklich anerkannt. Es wurde dem Hausvater wegen seiner vorzüglichen Arbeit sogar in der Stadtkämmerei eine Stelle angeboten, die er allerdings mit Stolz ablehnte.“16

Dass die Vorgänge im Marienthal im Januar 1940 ein „Beispiel für die Verachtung des Rechts und die Drangsalierung und Vernichtung kirchlicher Einrichtungen durch den nationalsozialistischen Staat“ (Johannes Strauß)17 darstellen und sie sich nicht gegen tatsächliche Missstände richten, sondern mangelnde Linientreue bestrafen sollen, legen auch Zeugnisse von Heimbewohnern der GESTAPO gegenüber nahe.

Deren -in den einschlägigen GESTAPO-Akten im Würzburger Staatsarchiv festgehaltenen- Aussagen zufolge ist die von Hans Habdank zu verantwortende Alltagspraxis u.a. dadurch geprägt, dass
- den Heimbewohnern eine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend bzw. dem BDM ausdrücklich verboten ist

- keine Thematisierung von nationalsozialistischen Fragen bzw. keine Vorträge bzw. Informationen mit politischem Inhalt stattfinden.
- der im Haus praktizierte Grußformel nach wie vor „Grüß Gott“ lautet und nicht „Heil Hitler“
- vom Hausvater explizit darauf hingewiesen wird, das Vorbild der jungen Menschen solle nicht „Adolf Hitler sondern Jesus“ sein.

 

 

 

Leben nach der Marienthal-Zeit

Auch wenn die Inhaftierung Hans Habdanks nicht so lange dauert, wie zeitweise zu befürchten war, hinterlässt sie offenkundig nachhaltig negative Folgen. Hildegard Propach, die 1934 in Schweinfurt geborene und heute in Oberbayern lebende Tochter, konstatiert, dass ihr Vater, „ein sensibler, einfühlsamer, warmherziger Mann“, durch seine Haft „gebrochen“ worden sei. Kurz nach seiner Haftentlassung seien erstmals Anzeichen einer Parkinson-Erkrankung festzustellen gewesen, die sein ganzes weiteres Leben belasteten.18

Die schmerzlichen Erfahrungen in Schweinfurt bewegen die Familie zum Umzug nach München. Die Jahre ab 1940 führen Hans Habdank beruflich zur dortigen Gesamtkirchenverwaltung, wo er zunächst als Verwaltungsinspektor und ab 1963 als Verwaltungsoberinspektor tätig ist.
1966 tritt er in den Ruhestand.

Am 23. April 1980 verstirbt Hans Habdank.
Der Nachruf der Rummelsberger Brüderschaft legt nahe, dass auch die Jahre nach seiner Zeit in Schweinfurt -es waren zunächst Kriegsjahre!- besondere Belastungen mit sich brachten, ohne dass uns darüber im Detail viel bekannt ist:
„Gott hat unseren heimgerufenen Bruder durch manche schwere Zeiten hindurchgeführt. Dabei denken wir an die Zeit des Kirchenkampfes in München und an die Zerstörung von München durch die Bombenangriffe. Wir denken aber auch an seinen Gesundheitszustand; er war viele Jahre hindurch gesundheitlich belastet. Im September des letzten Jahres musste er seine Frau hergeben. Was zeichnete unseren Bruder Habdank besonders aus? Es war seine große Treue im Dienst und seine außerordentliche Gewissenhaftigkeit in all den Aufgaben, die ihm übertragen waren. Dazu kam seine freundliche, immer aufgeschlossene Art; nie hat er aus sich selbst etwas gemacht.“
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