Die KInderjahre des Rudi Christ in Oberndorf im Zweiten Weltkrieg

Meine Kinderjahre während der Zweiten Weltkriegs

 

von Rudi Christ

 

In Schweinfurt-Oberndorf wurde ich geboren. Aufgewachsen als Kind bin ich in der Zeit nach dem Bankencrash 1929. Mein Vater wurde arbeitslos und musste mit 20 RM (Reichsmark) in der Woche die Familie mit 4 Personen ernähren. Nebenbei verdiente meine Mutter ein paar "Kröten" dazu...so sagte sie immer.
Heute stelle ich fest, dass die damaligen außergewöhnlichen Ereignisse kaum mehr allgemein bekannt sind. Ich möchte meine Erinnerungen genau so schreiben, wie ich sie erlebt habe. Dabei habe ich absichtlich auf jede kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit verzichtet. So sollen meine Schilderungen einfach ein Beitrag eines Zeitzeugen zum besseren Verständnis unserer Vergangenheit sein.

Meine Kinderjahre

Wie alle Kinder, sollte auch ich in den Kindergarten in Schweinfurt-Oberndorf gehen, der von katholischen Schwestern in schwarzer Tracht geleitet wurde. Da fällt mir spontan folgendes Erlebnis ein: Gleich am ersten Tag wurde ich für irgendetwas bestraft und man stellte mich eine Stunde lang in einen stockfinsteren Kellerraum mit dem Gesicht an eine Wand und musste dort ausharren. Ich hatte eine fürchterliche Angst, so dass ich am nächsten Tag, als meine Mutter mich wieder dort abgeben wollte, ich mich mit aller Kraft an dem Gartenzaun festklammerte. Ich wollte absolut nicht mehr in diesen Kindergarten, wo damals kath. Schwestern in schwarzer Tracht den Kindergarten leiteten. Meine Mutter hatte Einsehen und nahm mich wieder mit nach Hause. Von nun an brauchte ich nicht mehr dort hin.

Als kleiner Junge spielte ich im Hof des Biergartens. Nebenan war das Gelände der Eisenbahn- Reparaturwerkstatt. Dort arbeitete ein Schlosser der mich scheinbar mochte. Ich kletterte oft über den Zaun und dieser Mann schenkte mir kleine Bleisoldaten so z.B. Reiter, Infanteristen, Fanfarenbläser usw. die er selbst fertigte. Im Laufe der Zeit hatte ich ein ganzes Regiment Bleisoldaten einen Musikzug und voraus den Mann mit dem Tamporstab von ihm geschenkt bekommen. Ich hatte viel Freude daran. So war es nicht verwunderlich, dass ich mich für die Hitlerjugend in Uniform begeisterte. Meine Mutter klärte mich aber auf, dass ich erst mit zehn Jahren in das „Deutsche Jungvolk“ aufgenommen werden könne.

Meine Spielgefährten, bevor ich in die Schule kam, waren damals Heinz Hofmann, Werner Will und Konrad (Conny) Walther. Auf dem Fußgängersteg der von der Ernst-Sachsstraße zum Hauptbahnhof führte standen wir oft und warteten bis ein Personen oder Güterzug vorbei fuhr und wir uns im Dampf der Lokomotive tummelten. Mitunter waren unsere Gesichter schwarz vom rußigen Dampf.


Der Hunger gehörte seinerzeit zu meinem Leben

So erinnere ich mich, als meine Mutter nicht zu Hause war, dass ich, um in die Wohnung im 2. Stock zu gelangen, über eine verrostete Dachrinne kletterte und in das Küchenfenster einstieg. Mit einer Scheibe Brot in der Hand, ging plötzlich die Tür auf und meine Mutter kam herein und staunte als sie mich mitten in der Wohnung sah. Abends kam was kommen musste: Vom Vater bekam ich eine Tracht Prügel.

Wir wohnten in der Gastwirtschaft "Frühlingsgarten" in der Ernst-Sachsstraße 50. diese Gaststätte gehörte, bezw. wurde betreut vom "Brauhaus Schweinfurt". Gleich beim ersten Bomben-Angriff auf Schweinfurt fielen Brandbomben auf das Haus und das obere Stockwerk brannte aus. Danach wohnten wir mehrere Wochen in einem Luftschutzbunker mit 2 Familien in einem engen Raum ohne Fenster bis die Wohnung wieder bezugsfertig war.

1943 wurde der Frühlingsgarten während eines Bombenhagels durch einen Volltreffer völlig zerstört. An meine Jahre als Kind vor der Zerstörung des Hauses kann ich mich noch gut erinnern. Meine Eltern wohnten im 2.Stock, die Familie "Mager" bewirtschaftete das Gasthaus.

Ein Bierkutscher, es war Herr "Trautner" vom Brauhaus Schweinfurt, kam 2-mal in der Woche mit seinem Pferdefuhrwerk zum Bier anliefern und hielt an der Gastwirtschaft. Ich half beim Abladen und durfte einige Zeit später alleine mit dem Pferdegespann auf dem Kutschbock sitzen. Eines Tages durfte ich sogar das Pferdegespann ganz stolz über die Ernst-Sachsstraße, weiter über die Viehrampe zur nahe gelegenen Eisenbahn-Kantine fahren, die sich im Schweinfurter-Eisenbahngelände befand. Als Dank bekam ich aus der Kantine ab und zu ein Wurstbrötchen. Das war dann für mich immer ein „Feiertag“.

Im Hof war ein großer Biergarten mit vielen alten Kastanienbäumen, hier war auch mein Spielplatz als kleiner Junge. Im Winter besorgten wir uns Fassdauben möglichst von Weinfässern, weil die leichter waren als bei Bierfässern. Als Bindung wurde ein Riemchen an den Seiten der Dauben fest genagelt und gewachst wurde mit einer Wachskerze. Damit fuhren wir den Hügel am Eisenbahnersportplatz an der Gerolzhöferbrücke runter. Immer gerade aus, Kurven fahren ging damit nicht. Zum Main hatte ich nicht weit zu laufen. Dort traf ich mich oft mit Heinz Hofmann der mit seinen Eltern in einem Eisenbahnwagon neben dem Eisenbahner Sportplatz an der Gerolzhöferbrücke wohnte. Am Ufer vom Main machten wir Schwimmversuche und im Frühjahr surften wir leichtsinnigerweise auf den treibenden Eisschollen.

Auf der anderen Mainseite war das Freibad. Um dort hin zu kommen mussten wir mit einem Kahn über dem Main fahren. Das kostete einen Groschen den wir aber nicht hatten. Folgedessen schlichen wir uns über die Gerolzhöfer Brücke die aber für Fußgänger gesperrt war. Obwohl wir immer nach der Bahnpolizei Ausschau hielten kam es vor, dass wir flüchten mussten.

Ganz stolz war ich, als ich zum 1. Mal mit 8 Jahren über den Main schwamm.

Meine Schuljahre!

1937 wurde ich in die Dr. Ludwig-Pfeiffer-Schule in Oberndorf eingeschult. Ein Jahr lang waren kath. Mädchen und Jungens in einer Klasse. Danach wurden Jungen und Mädchen getrennt. Warum, das erfuhren wir nicht.

Als 1939 der 2. Weltkrieg ausbrach wurden in der Folgezeit nacheinander die jüngeren Lehrer eingezogen zur Front. Ständig hatten wir einen neuen Lehrer und sie wurden immer älter. Deshalb hatten wir keinen normal aufgebauten Lernunterricht mehr.

Ich kann mich noch an einen Lehrer erinnern der von Lothringen war. Sein Schlagwort war immer wenn ein Schüler unaufmerksam war: „Du Lausejunge, Du bist wohl verrückt geworden, Du schreibst 2 Seiten ab für morgen“.

Zwischendurch hatten wir längere Zeit einen vollbärtigen Lehrer mit über 70 Jahren. Was dieser Lehrer am besten konnte waren 6 Stockschläge auf die Hand oder auf dem strammgezogenen Hosenboden. Die Hände waren nach den Schlägen pelzig und wir konnten kaum noch den Griffel in die Hand nehmen. Im ersten Schuljahr haben wir noch die „Deutsche Schrift“ geschrieben, danach kam die Umstellung zur heutigen Schrift.

Als der Krieg voll im Gang war, hatten wir kaum noch etwas Richtiges zu Essen. Das Pausenbrot war mit Kunsthonig bestrichen und schmeckte scheußlich. Meine Mutter musste Brot fechten, weil die Lebensmittelkarten-Rationen nicht ausreichten. Am Ende des Monates war die Lebensmittelkarte aufgebraucht und es standen nur noch Pellkartoffeln auf dem Tisch. Manchmal gab es Salzheringe dazu.

In unserer Nähe vom Wohnhaus war eine Soldatengruppe mit ihrer Vierlingsflak auf einem Holzturm. Bei den Soldaten holte ich fast täglich altes, steinhartes Kommissbrot das sonst in den Mülleimer landete. Ich hatte ja gute Zähne und ich wurde wieder mal satt.

Aus unserer Hungersnot heraus klaute ich auf dem Acker Rüben und Kartoffeln, auch Nachbars Äpfel mussten dran glauben. Wenn ich nach Hause kam waren meine ersten Worte: Mama, ich möchte ein Fettbrot oder Zuckerbrot. Beim Zuckerbrot wurde das Brot unter der Wasserleitung angefeuchtet und dann Zucker drüber gestreut. Das war meistens mein Essen tagsüber.

Unser Spielplatz war auch die Viehrampe in der Ernst-Sachs-Straße. Hier wurden in regelmäßigen Abständen Panzer und Kriegsgeräte verladen. Soldaten schickten uns hin und wieder in die nahe gelegene Eisenbahn Kantine um Bier oder Zigaretten zu holen. So sollten wir wieder Mal für die Panzersoldaten Bier und Zigaretten holen, als wir mit der eingekauften Ware zurück kamen war leider der Zug mit den Soldaten abgefahren. Das tat uns richtig leid.

Schuhe und Bekleidung waren nur mit Bezugscheine zu haben. Aber den bekam man nur, wenn man etwas zum Schachern hatte, wie z.B. Zigaretten, Wurst oder Speck.

Das wiederum hatten aber nur die Bauern. So ging ich vom Frühjahr bis in den Herbst hinein den ganzen Tag barfuss. Ja auch in die Schule gingen die meisten Schüler barfuss, ich auch. Im Sommer und den ganzen Winter über bis zu meinem 16ten Lebensjahr trug ich eine kurze Lederhose, in Bayern genannt auch "Lederarsch". Im Winter trug ich lange Strickstrümpfe die am Oberschenkel mit einem Einmachgummi befestigt waren. Die Schuhe im Winter waren meist abgelaufen und viel zu klein, deshalb habe ich immer wieder Frostbeulen an den Zehen bekommen die ständig juckten und im Schuh gedrückt haben. Richtige Spielsachen hatten wir nicht. Ich schnitzte sehr viel mit meinem Taschenmesser kleine Schiffchen aus Rinde und dgl. Scheinbar wurde mir das Schnitzen in die Wiege gelegt, denn in späteren Jahren lernte ich die Bildhauerei.

Beliebt bei uns war auch das „Landausstecherles“. In einem Viereck wurde das Messer geworfen, in der Richtung der Schneide ein Strich gezogen, wer am Ende das meiste „Land“ hatte, hatte gewonnen. Trotz dem ständigen Hunger ging es uns aber relativ gut bis der erste Bombenangriff im Frühjahr 1943 auf Schweinfurt folgte.


Der Bombenangriff im Frühjahr 1943

Auf dem Haus in dem wir wohnten vielen Brandbomben und unsere Wohnung brannte aus. Einige Wochen lebten wir danach im Bunker (Schutzräume bei Fliegerangriffen) bis die Wohnung notdürftig in stand gesetzt war.

Nun lagen fürchterliche Jahre vor uns, ständig auf dem Sprung bei Bombenalarm. Fast jede Nacht heulten die Sirenen und wir rannten halb angezogen aus dem Haus zu dem uns zugeteilten Schutzbunker. Oft hörten wir die Bombengeschwader über unsere Stadt hinweg ziehen und waren froh, dass die Bombenladung nicht über uns abgeworfen wurde. Es kam auch vor, dass ich beim Bombenalarm nicht wach wurde, da packte mich meine Mutter unter ihrem Arm und schleppte mich zum Bunker. Zum Schutz von Gasbomben wurden Gasmasken an die Bevölkerung verteilt, die in unserem Notgepäck sein sollten.

Nach einem Angriff standen Stadtteile verhüllt in Rauch, ganze Häuserreihen waren dem Erdboden gleich gemacht. Überall ertönten Hilferufe von Verletzten die teilweise noch unter den Trümmern begraben waren. Sanitäter suchten nach Verletzten und bargen die Toten die neben den Trümmern abgelegt wurden.

Im Nachbarhaus kam meine Spielgefährtin „Lydia“ ums Leben. Danach war ich sehr traurig. In einer lang gezogenen Baracke an der Gerolzhöfer Eisenbahnbrücke wohnten mehrere Familien mit Kindern. Eine Bombe schlug beim Angriff 1943 in diese Baracken ein und ich habe nach dem Angriff mit angesehen, wie man viele Tote, darunter auch Kinder, auf einem Lastwagen geladen hat. So viele Tote auf einem Haufen habe ich nie mehr gesehen. An solchen Tagen haben wir keine Lust mehr zum Spielen gehabt.

In der Schule, aber auch beim Spielen, kam kein Lachen mehr auf. Alle Menschen waren mehr oder weniger traumatisiert von den schrecklichen Geschehnissen. Mein Vater hatte den 1. Weltkrieg bei der Kavallerie kriegsbehindert überstanden und musste deshalb nicht an die Front. Er war als Sanitäter in der Rettungsstelle in Schweinfurt eingesetzt und betreute nach einem Angriff die vielen Verletzten.