Der Kolkrabe und dessen Streiche im Hotel zum Raben in Schweinfurt in den Jahren 1874 - 1886
aufgezeichnet von Carl Preiss, früher Besitzer vom Hotel Raben - 1912
Vorwort
Freunde und Bekannte, die sich meines gelehrigen Kolkraben und seiner vielen ergötzlichen Streiche noch oft und gerne erinnern, veranlassten mich zu dieser Broschüre.
Sie wird nicht nur denen Freude bereiten, die sich dieses klugen Tieres noch erinnern können, sondern jedermann, der ein Freund der Tiere ist. Die Broschüre enthält eine stattliche Reihe
wahrheitsgetreuer Episoden aus dem Leben des seinerzeit in Schweinfurt allgemein bekannten und beliebten Kolkraben "Jakob" und ist in der Absicht geschrieben, den Lesern einige vergnügte Stunden
zu bereiten.
Schweinfurt, im Oktober 1912
Carl Preis
Kolkraben im Allgemeinen
Der Kolkrabe unterscheidet sich durch seine Größe ganz bedeutend von dem gewöhnlichen Raben. Der Kolkrabe ist in der freien Natur ein gefürchteter Räuber, lebt meistens von jungen Hasen,
Rebhühnern, kleinen Vögeln und deren Jungen, Leibspeise sind aber die Eier. Der Kolkrabe baut mehrere große Nester auf die höchsten Bäume und fliegt nie zuerst in's Nest, wo seine Eier oder
Jungen sind. Der gewöhnliche Rabe legt 4-5 Eier, dagegen der Kolkrabe nur zwei. Der Kolkrabe leidet kein anderes Paar in einem Umkreis von 10-15 Kilometern, deshalb wird er in unserer Gegend nur
noch selten gesehen. Seine Sehkraft und sein Gedächtnis sind so großartig (was später bewiesen werden soll), dass man nur staunen muss.
Der Kolkrabe im Hotel zum Raben in Schweinfurt
Als ich das Hotel im März 1874 übernommen hatte, kaufte ich im April von Torwart Braun einen Kolkraben um 48 Kreuzer. Um ihn heimisch zu machen, sperrte ich denselben in einen großen Käfig.
Nach einigen Tagen war er schon so an mich gewöhnt, dass ich ihn frei herumlaufen lassen konnte. Des Abends musste er dann wieder in seinen Käfig. Mit seiner Freiheit des Tags nahmen seine tollen
Streiche ihren Anfang.
Der Rabe wurde Jakob gerufen und nach kurzer Zeit, wenn man ihn fragte: "Wie heißt Du?" brachte er deutlich "Jakob" in allen Tonlagen heraus. Sein Lieblingsplatz war in der ersten Zeit
der Handwagen vor dem Hotel. Hier dachte er sich seine Streiche aus. Als eines Tages vor dem Hotel mehrere Kissinger Chaisen standen, fehlten, als die Kutscher abfahren wollten, bei sämtlichen
Wagen die Deichselnägel, obwohl dieselben mit Leder umwickelt waren. Jakob hatte mit seinem kräftigen Schnabel so lange alles bearbeitet, bis die Nägel sich lösten und er dieselben irgend wohin
verstecken konnte. Der Wagen des Herrn Baron von Heßberg auf Reichelshof stand oft vor dem Haus und immer wieder machte Jakob ein Loch in die Kissen und zog sämtliche Rosshaare heraus. Jakob
hatte vor nichts Furcht, alle Hunde und Katzen mussten vor ihm flüchten; kam einer ihm zu nahe, flugs war er auf dem Rücken derselben und bearbeitete sie mit seinem Schnabel, dass sie kläglich
Reißaus nahmen.
Wenn bei Festlichkeiten die Häuser mit Fahnen geschmückt waren, war Jakob nicht zubewegen, das Hotel zu verlassen, ängstlich schaute er immer nach den Fahnen, zog sich ärgerlich in's Haus zurück und trieb da seinen Unfug. Auf die Fremdenzimmer hatte er es abgesehen. Er zog aus sämtlichen Leuchtern die Kerzen heraus und versteckte sie in den Betten. Von den Türen zog er die Schlüssel heraus (indem er auf den Drücker flog) und versteckte sie unter die Korridorläufer.
Einen Herrn belästigte er morgens im Bett: Er flog durch's offene Fenster vom Dach aus in's Zimmer auf's Bett und bearbeitete den Herrn mit dem Schnabel durch's Deckbett, sodass derselbe mit
Gewalt ihn zum Fenster hinaus brachte. Als der Herr später sein Zimmer betrat, hatte Jakob dessen Hut durchlöchert, sowie sämtliche Toilettensachen, Pantoffeln vis à vis auf's Dach geschleppt. In
anderen Zimmern demolierte er auch manches. Schreibmappen, Tintenzeuge, Bücher, Bürsten, alles wurde bearbeitet und versteckt. Für den Schaden musste ich natürlich aufkommen.
In meinem Privatzimmer war, als ich mit meiner Frau von einem Besuch zurückkam, eine furchtbare Zerstörung. Die neuen Decken waren auf den Fußboden gezogen, das Tintenfass darübergeleert. Mit
seinen davon geschwärzten Krallen marschierte er auf die Betten, überall neue Muster hinterlassend. Bücher, Nippsachen und anderes lag meist beschädigt wirr durcheinander. Jakob war nach solchen
Streichen nirgends zu sehen. Er wusste, was er angestellt und fürchtete seine strafe. Trotz allem Unfug hatte Jedermann seine Freude an ihm.
Am Rathaus war zu dieser Zeit ein sogenannter Pumpbrunnen. Jeden Morgen setzte sich Jakob auf den Brunnenstein und wartete bis jemand kam und ihn voll Wasser pumpte, das war sein Morgenbad.
Eine Gemüsehändlerin (die Bamberger Babett genannt) hatte ihren Stand in der Nähe. Dieselbe war gut Freund mit ihm und erbarmte sich seiner und pumpte ihn täglich tüchtig voll. Alle
Vorübergehenden blieben stehen und erfreuten sich an dem Anblick. Bei der eisigsten Kälte nahm er nahm er dieses Bad und kam dann oft zusammengefroren nach Hause. Ich setzte ihn auf einen Stuhl
am Ofen, wo er dann, bis er aufgetaut war, Toilette machte. Jede feder wurde durchgearbeitet. Er ließ sich während dieser Zeit nicht gerne stören. Das sollte auch ein Reisender, Herr Steffens aus
Düsseldorf, erfahren, welcher ihn, während er auf dem Handwagen saß und Toilette machte, necken wollte, indem er mit einem Bund kleiner Schlüssel fortwährend gegen ihn fuhr. Einigemal ließ sich's
Jakob gefallen, plötzlich aber riss er ihm den Schlüsselbund aus der Hand und hüpfte damit den Marktplatz hinauf, Steffens lief unter dem Halle der Zuschauer hinterher, aber es war vergebens,
Jakob war mit seiner Beute in der Oberen Straße auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Herr Steffens kam dadurch in große Verlegenheit und Unkosten, alles Fluchen und Schimpfen half nichts,
die Schlüssel waren fort. Nach solchen Streichen ließ sich Jakob mehrere Stunden lang nicht sehen.
Als man im Jahre 1875 den Marktplatz neu pflasterte, wurde derselbe mit kleinen Pflöcken in Felder eingeteilt. Als die Arbeiter oberhalb des Platzes fertig waren, hatte Jakob, der schon alles beobachtete, am untern Teil sämtliche Pflöcke herausgerissen und fortgeschafft. Eine große Kraft hatte er dabei anwenden müssen.
Eine sichtliche Freude hatte Jakob, wenn die Messebuden aufgeschlagen wurden. Er hatte es da sehr notwendig und war den ganzen Tag auf dem Posten wie ein Bauführer. Sobald eine Bude fertig
war, saß er stolz oben auf derselben und inspizierte alles. In einer dieser Buden htte auch ein Charcutier (Metzger) seine Wurstwaren aufgehängt. Um nun in die Bude hineinsehen zu können, hatte
sich Jakob mit seinem scharfen Schnabel ein Loch in die Plane, welche als Vordach diente, gemacht und benützte jeden unbewachten Augenblick, um sich eine Wurst zu stehlen. Der Besitzer wollte
Schadenersatz haben, worauf ich jedoch nicht einging. "Nun, dann werde ich das Vieh erschlagen!" erklärte er mir. Ich erwiderte: "Er soll es tun, wenn er könne." Ich wusste aber, dass der schlaue
Jakob nicht zu erhaschen ist, da er alles mit Überlegung tat.
Einmal kam er auf einem Ständer (Bein) zu mir gehüpft, am anderen hing die Haut herunter. Er muss also in Gefahr gewesen sein, ich zog die Haut wieder über den Ständer und legte ihm einen
Verband an. Er ließ sich alles ruhig gefallen; nach 8 Tagen nahm ich ihm den Verband wieder ab, da war der Ständer wieder vollständig geheilt und vergnügt hüpfte er von dannen, um neue Streiche
zu liefern.
Für seine Nahrung brauchte man sich nicht zu sorgen; er hatte sich mehr zusammengestohlen, als er fressen konnte. Kein Metzgerladen war sicher vor ihm! An den Markttagen stibitzte er den
Weibern die Eier, Käse, Butter usw., wenn die Körbe auf dem Boden standen.
Eine Frau hatte sich einige Pfund Fleisch gekauft. Sie stellte den Korb mit Deckel, in dem das Fleisch war, hinter ihren Stand; Jakob beobachtete lange alles, schlich sich unbemerkt an den
Korb, machte denselben auf, nahm das Fleisch und hüpfte mit demselben fort. Darob allgemeines Hallo! Die bestohlene Frau lachte auch kräftig mit, bis sie entdeckte, dass das Fleisch aus ihrem
eigenen Korb entnommen war. Jetzt ging es natürlich hinter Jakob her! Da das Fleisch zu schwer war, um damit davon zu fliegen, ließ er es fallen und machte sich aus dem Staube. So ist dann die
gute Frau wieder zu ihrem Braten gekommen.
Welche Kraft er hatte und wie unerschrocken er war, sollen folgende Bravourstücke beweisen:
Im Hinterhof vom Hotel hatte ich stets einige Schweine gemästet; dort fanden sich auch ratten ein, welche sich an der Fütterung beteiligten. Jakob hatte das ausspioniert. Als ich einmal nach
den Schweinen sah, fang ich Jakob in folgender Situation: Er hatte eine Ratte am Ende des Schwanzes erwischt. Diese machte alle möglichen Anstrengungen, um loszukommen; aber es war umsonst.
Nachdem ich das Schauspiel einige Zeit mit angesehen hatte, nahm ich einen Prügel und erschlug die Ratte. Jakob verspeiste sie dann mit gutem Appetit. Bald nachher, an einem heißen Sommertag
mittags 12 Uhr, die Speisesaaltüren standen offen, hörte man vom Hof her ein Pfeifen und Zischen, sämtliche Hotelgäste sprangen vom Saal heraus, um zu sehen, was passiert sei. Da kam Jakob mit
der größten Ruhe vom Hofe mit einer großen Ratte im Schnabel herspaziert. Er hatte dieselbe in der Mitte gepackt, alles Zischen und Pfeifen half nichts, er trug sie gemütlich auf den Marktplatz,
wo er sie so lange auf das Pflaster aufschlug, bis sie tot war. Dann wurde die zerlegt und ein Teil davon verzehrt, für den Rest machte er Löcher zwischen die Steine, steckte das Fleisch hinein
und deckte alles schön mit Erde zu. Wenn er am nächsten tag hungrig war, ging er direkt zu seinem vergrabenen Vorrat und verspeiste ihn.
Nach einigen Jahren ging er nicht mehr in den Käfig, obwohl die Türe nie geschlossen war, sondern er suchte sich selbst sein Nachtquartier im obersten Boden auf einem Balken; auch tagsüber
suchte er diesen Ruheplatz auf und machte da seine Sprechstudien. Wenn man ihm leise nachschlich, konnte man hören, wie er viele Namen von Personen deutlich aussprach, dazwischen übte er sich im
Pfeifen, bellte genau wie ein Hund und auch den Ruf der Haushähne machte er deutlich nach. Er verfügte über einen staunenswerten Wortreichtum. Sobald er bemerkte, dass er belauscht wurde, gab er
keinen Ton mehr von sich und verschwand verärgert.
Vor dem Hotel hörte man einst fortgesetzt einen Hund bellen, konnte aber keinen entdecken. Als man sich unter den Landauern vor dem Hotel umsah, da saß Jakob auf der Achse, wo er das Bellen
eines Hundes nachahmte. Sowie er sich beobachtet fühlte, verschwand er wieder.
Im Jahre 1878, als in Schweinfurts Umgebung Manöver abgehalten wurden, wohnte Seine kgl. Hoheit, unser verehrter Prinzregent vom 9. - 13. September als General-Feldmarschall und Inspektor der bayerischen Armee mit großem Gefolge im Hotel zum Raben. Seine kgl. Hoheit ist bekannt als großer Freund der Tiere und so interessierte sich der hohe Herr auch für Jakob, besonders nachdem ich einige seiner Streiche berichtet hatte. Ich sagte u.a. auch, dass sich Jakob vor gar nichts fürchte, nur wenn Fahnen heraushingen, wäre er nicht vor's Haus zu bringen. Seine kgl.Hoheit fragte mich am Tage der Abreise: "Wissen Sie nun auch wer sich freut, dass ich abreise?" Ich erwiderte "Ich kann mir niemand denken, der sich darüber freuen würde!" "Aber der Jakob!" sagte Seine hgl. Hoheit. "Wenn die Fahnen wieder weg sind, dann hat er wieder Freiheit und kann neue Streiche aussinnen". So oft später eine Kommission aus Schweinfurt Audienz in München hatte, erkundigte sich Seine kgl. Hoheit jedesmal nach Jakob.
Als Beweis für die außerordentlich starke Sehkraft und große Gewandtheit des "Jakob" seien folgende Wahrnehmungen dargelegt:
Die wohl mit den Gemüsewaren der Händler an den Markttagen heimgetragenen Ameisen waren für ihn eine angenehme Unterhaltung und gesuchte Labung. Munter hüpfte er nach solchen Märkten auf dem
Marktplatz umher und ich beobachtete, dass er schon auf 15-20 Schritte die Ameisen bemerkte, ihnen zuhüpfte und sie verspeiste. Amüsant war es für seine stets zahlreichen Zuschauer, wenn er auf
seinem Lieblingsplatz, dem Rad des vor dem Hotel stehenden Handwagens saß und flink und sicher die ihm auf ca. 20 Schritte zugeworfenen Pfennigstücke , Erbsen, Knöpfe und dergleichen mit seinem
Schnabel auffing. Auf den Zuruf "Jakob pass auf", durfte man sicher sein, dass er die zugeworfenen Gegenstände, wenn sie nur in seine Nähe geworfen, mit Sicherheit erhaschte.
Als einst bei Herrn Justizrat Müller am Markt auf kurze Zeit niemand im Büro war, kam Jakob durch's offene Fenster und zerriss sämtliche Akten, die auf dem Tisch lagen. Durch seine
hinterlassene Visitenkarte wusste man, wer der Attentäter war. Herr Justizrat Müller beklagte sich bitter bei mir.
Wenn ich zum Fenster hinausschaute und ein Liedchen pfiff, wusste er, dass ich guter Laune bin. Er kam dann herbei, setzte sich neben mich, was er immer tat, wenn ich mit ihm sprach. Auf
diese Art konnte ich ihn erwischen und ihm dann den Ort seiner Schreckenstaten zeigen. Ich sagte dann immer: "Was hast Du hier gemacht?", nahm ein spanisches Röhrchen und wischte ihn durch. Er
ließ sich's schreiend gefallen, ohne sich gegen mich zu stellen.
Er verlegte nun seine Strecke vom Hause weg. So hatte er in einem Garten eine Gans, welche brütete, von ihren Eiern verjagt, um dieselben zu fressen. Den Schaden musste ich
ersetzen.
Ein Herr Steuerlein hatte in der Nähe des Theaters einen Garten. Auf diesen hatte es Jakob abgesehen. Alle gesetzten Pflanzen riss er heraus, jeden Tag verübte er in dem Garten neue
Zerstörung. Herr Steuerlein kam ganz verzweifelt zu mir und beklagte sich über Jakob. "Es ist gar nichts machen gegen ihn" sagte er. "Wenn Jakob mich oder jemand von meinen Leuten erblickt, so
ist er wie der Blitz verschwunden, sind wir wieder fort, so ist er wieder da!" "Hier gibt es nur ein Mittel", tröstete ich ihn, "er muss bei Ihnen eingesperrt werden. Halten Sie einen großen Korb
bereit und wenn er wieder in Ihren Garten kommt, schicken Sie gleich zu mir." Schon am nächsten Tag kam ein Bote. Ich schickte meinen langjährigen Hausdiener, welcher mit Jakob alles anfangen
konnte, in den Garten. Derselbe nahm ihn und steckte ihn unter den Korb, welcher mit einigen Steinen beschwert wurde. Hier musste er ca. 4 Stunden verbleiben. Als man ihn los ließ, flog er rasch
davon, um sich nicht wieder in dem Garten erblicken zu lassen. Er war also da kuriert.
Ein Hund sonnte sich auf dem Marktplatz. Jakob beobachtete ihn, schlich sich herbei und zwickte ihn dermaßen in den edelsten Teil, dass der Hund unter furchtbarem Geheul die Obere Straße
hinauf rannte.
Jakob war immer neugierig. Wo viele Leute waren, da musste er auch sein, um zu sehen was los sei. So schloss er sich an einem hohen Feiertag den zahlreichen Kirchgängern an, schlüpfte mit zur
Türe der Johanniskirche hinein, spazierte zum Hochaltar, hüpfte auf denselben, warf die kelche mit Wein um, streute die Hostien umher, verunreinigte die Altardecken, warf die Leuchter mit Kerzen
um, kurzum, er verübte allerlei Unfug. Der Kirchendiener wollte ihn verjagen, doch nahm er gegen denselben eine drohende Haltung ein, zwickte ihn in die Beine, wobei er seinen Ruf "Jakob" ertönen
ließ. Der Kirchendiener konnte nichts ausrichten; er musste vor Jakob flüchten, da er von demselben verfolgt wurde. Der damalige Herr Dekan Müller (später Konsistorialrat in Bayreuth) kam noch am
selben Tag zu mir und beklagte sich sehr über den Vorfall in der Kirche. Er sagte: "Der Jakob hat uns den ganzen Gottesdienst gestört, ich war in furchtbarer Verlegenheit. Sie müssen Jakob
Sonntags immer einsperren, dass der Fall nicht mehr vorkommt". Ich entschuldigte mich und versprach dies zu tun. Es gibt gewiss noch viele ältere Leute, die seinerzeit dem gestörten Gottesdienst
beiwohnten.
Noch an demselben Abend bekam ich dann ein Schreiben vom Polizeiamt folgenden Inhalts: "Da der Rabe den Gottesdienst wiederholt in der empfindlichsten Weise gestört hat, werden Sie hiermit
ernstlich aufgefordert, denselben an Sonn- und Feiertagen während der Kirche einzusperren".
Dieses Schreiben hing ich im Speisesaal auf, wo es den Reisenden viel Stoff zur fröhlichen Unterhaltung gab. Einer dieser Herren kam dann auch in die Brauerei Krackhardt am Wall und erzählte
die Geschichte vom Jakob und dem Schreiben am Stammtisch. Es war auch Herr Bürgermeister v. Schultes anwesend; natürlich wurde auch hier viel darüber gelacht. Leider kam noch am selben Abend ein
Schutzmann in's Hotel und nahm zu meinem Bedauern das Schreiben im Speisesaal weg, eigentlich mit Unrecht, denn es war mein Eigentum. Doch es geschah auf höheren Befehl.
An Markttagen trieb sich Jakob gern bei den Marktweibern herum, um Unfug zu treiben. Einer Frau hatte er den Strohhut weggeschleppt, andere zwickte er in die Waden, wenn sie sich bückten,
anderen leerte er die Körbe mit Gemüsen und Sämereien um usw. Pferde und Rindvieh ließ er nicht in Frieden. Wenn sie ruhig standen, bearbeitete er deren Beine mit seinem Schnabel.
Im Dachboden meines Nachbarn, W. Neubert, war Wäsche aufgehängt. Jakob flog durch die Dachluken, flog auf die Wäscheleinen, riss die Klammern weg und zerrte sämtliche Wäsche herunter. Die
Wäsche musste neu gewaschen werden. Auf Wunsch sperrte ich dann Jakob so lange ein, bis die Wäsche abgenommen war.
Der Gehilfe des Herrn Heinrich Deifel schlief sich an einem Sonntag in seinem Dachzimmer gehörig aus. Da kam Jakob an das offene Fensterchen und rief fortwährend: "Lump. steh auf!" Der
Gehilfe wollte seine Stelle kündigen, da er glaubte von den Leuten im Haus so beschimpft worden zu sein.
bei Kaufmann J.J.Hamberger machte er auch täglich Besuche im Laden. Besonders wenn viele Käufer da waren, blieb er gerne längere Zeit. Er setzte sich auf den Ladentisch, beobachtete alles und
ließ sich nicht vertreiben.
Bei dem Nachbar Bäcker Richter stellte er sich auch gerne ein. Er hatte es auf den Teig abgesehen, welcher in Form von Kuchen, Brezel, Wecken usw. auf den Blechen im Vorplatz auf den Tischen
umherstand. Er marschierte flott darauf hin und machte schöne Figuren hinein. Als man das Unheil merkte, war Jakob verschwunden.
Viele Damen packte er im Vorübergehen beim Rocke und ließ sich förmlich mitschleppen.
Hunderte von Streichen wären noch zu berichten, sind aber teilweise während der Zeit seines vor 26 Jahren erfolgten Todes in Vergessenheit geraten.
Jakobs Tod
Im Jahre 1886, an einem Sonntag Nachmittag, kam ich mit meiner Frau von einem Spaziergang nach Hause. Welcher Schrecken! Unser lieber, armer Jakob lag tot auf dem Tisch. Unsere Trauer war sehr groß. Vor dem Hotel hatte mein Hausdiener Jakob aufgehoben. Er war noch warm. Man wusste nicht, wie es passiert war. Am andern Tag stand folgende Notiz im Schweinfurter Tagblatt:
"Der in der ganzen Stadt bekannte und beliebte Rabe "Jakob" fiel gestern Nachmittag vom Hause des Herrn Pollich herunter, wahrscheinlich vom Schlage getroffen und war sofort tot."
Bei näherem Zusehen zeigte sich aber, dass dem Jakob die Flügel kurz abgeschnitten waren und derselbe wohl aus dem dritten Stock durch das Fenster auf die Straße geworfen worden war. Da er
keinen Halt mehr in der Luft hatte, fiel er auf den Kopf und brach das Genick.
Ich ließ dann im Tagblatt eine Berichtigung erscheinen, die die wahre Todesursache bezeichnete. Hätte der Attentäter, welchen Jakob mit seinem Besuch bedachte, ihn einfach, auch mit
beschnittenen Flügeln, zur Türe hinausgejagt, so hätte er nicht so schmählich geendet. Da Jakob durch die allzusehr gestutzten Flügel verunstaltet war, konnte man ihn auch nicht ausstopfen
lassen.
Alle Reisenden, die dann in's Hotel kamen, vermissten Jakob schwer und hatten Trauer um ihn; war er doch aller Liebling. Die meisten kannte er und hüpfte ihnen freudig entgegen.
Alle wollten wieder einen Jakob haben und ich entschloss mich daher, wieder einen Kolkraben anzuschaffen. Ich hatte erfahren, dass im Brönnhofer Wald ein Paar nisten soll. Ich ließ mir den
damaligen städtischen Waldhüter und Jagdaufseher Schoter kommen und versprach ihm 10 Mark, wenn er mir einen jungen Kolkraben verschaffen könne. Anfang April 1887 brachte mir Herr Schoter ein
großes, aus Reisig, innen mit Wurzeln ausgelegtes, fest gebautes Nest mit zwei halbflüggen Jungen. Eines war bedeutend größer (das Weibchen) als das andere (das Männchen). Ich fütterte die Jungen
in ihrem Neste, welches sie erst nach 6 Wochen, als sie ganz flügge waren, verließen. Zwei Raben waren mir zu viel; deshalb habe ich das Männchen dem Tiergarten geschenkt, dort ist es aber nach
kurzer Zeit auf Nimmerwiedersehen ausgewischt.
Der neue Jakob, mit dem ich mich viel abgab, war sehr gelehrig und machte mir viel Spass. Auch er hatte sich vor dem Handwagen am Hotel schon heimisch gefühlt. Die meisten Kinder, die täglich
vorüber gingen, neckten Jakob fortgesetzt. Eine Zeit lang ließ sich dies Jakob alles gefallen, bis er schließlich auf die Kinder losging, welche unter fürchterlichem Geschrei davonliefen. Der
Rabe verfolgte dieselben ca. 100 Schritte; der ganze Marktplatz war in Aufruhr, man glaubte Wunder was für ein Unglück geschehen wäre. Noch an demselben Tag bekam ich einen Brief von einem Herrn
Stadtrat, welcher die Szene mit ansah und mich ersuchte, den Raben wegzuschaffen, da man nicht wissen könne, was für Unglück derselbe noch anstelle, besonders, da man für alles verantwortlich
gemacht werden könne. Ich schickte nun den Raben leihweise in den Tiergarten und er kam in die Abteilung zu den Störchen. Ich wollte ihn nach einiger Zeit, wenn die Aufregung sich etwas gelegt
hatte, wieder zu mir nehmen. Ich fütterte den Raben täglich. Sowie ich die Türe zum Garten aufmachte, stimmte er ein Freudengeschrei an, bis ich bei ihm war. Ich trennte mich ungern von ihm, da
er immer mitwollte. Eines Nachmittags, als ich wieder Futter brachte, lag der Rabe tot auf dem Wasser. Auf die an den Wärter gerichtete Frage, was mit dem Raben passiert sei, erwiderte er, er
wisse es nicht; wahrscheinlich hätte er baden wollen und sei ertrunken. Der Mann hatte eben kein Interesse an seinen Tieren. Nun hatte ich keine Lust mehr einen neuen Kolkraben anzuschaffen. Wie
mir Waldhüter Schoter berichtete, sollen auch die alten Kolkraben im Brönnhofer Wald ausgewandert und in der ganzen Umgegend nicht mehr gesehen worden sein.