Das Gesicht im Main
Zwei Schweinfurter Schiffsknechte hatten einmal auf dem Main eine gespenstische Erscheinung. Der Schnee war geschmolzen und der Main führte Hochwasser. Da ließ ein Schweinfurter seine Schiffe leer nach Bamberg ziehen, um sie dort mit Getreide nach Mainz zu beladen. Zwei Lastschiffe waren schon mit der kotbaren Fracht gefüllt. Plötzlich trat Frotwetter ein, so dass man Treibeis befürchten musste. Die zwei vollen Schiffe sollten deshalb so bald als möglich wenigstens nach Schweinfurt zurückgefahren werden. Zwei beherzte Schiffsknechte erklärten sich zu dieser gefährlichen Fahrt bereit. Die beiden Fahrzeuge wurden zusammengekoppelt und noch abends fuhren die Knechte von Bamberg ab. Die Schiffe waren so schwer beladen, dass der Schiffsrand nur handbreit über den wasserspiegel schaute. Rasch und ruhig glitten sie flussabwärts. Hinten am großen Steuer stand der eine Schiffer und sah aufmerksam vorwärts. Inzwischen war es völlig Nacht geworden. Am nächtlichen Himmel jagten schwarze Wolken und nur hie und da kam der leuchtende Mond zum Vorschein. Sein weißes Licht glitzerte auf den trüben Fluten. Es war unheimlich stille. Nur das Wasser rauschte und das große Steuerruder ächzte zuweilen.
So verrann Stunde um Stunde. Endlich verkündete die Turmuhr eines nahen Dorfes die Mitternacht. Langsam tönten die zwölf Schläge durch die Nacht. Kaum waren sie verklungen, da gewahrte der wachsame Steuermann zur Seite seines Schiffes in den Fluten etwas Grauenhaftes. Bleich vor Schrecken machte seinen Kameraden auf eine gespenstische Erscheinung im wasser aufmerksam. Beide sahen unter dem Wasserspiegel das hell erleuchtete Antlitz eines Menschen, der seine gefalteten Hände bittend erhob, als wolle er die beiden Schiffer um Hilfe anflehen. Allmählich kam das Gesicht dem Schiff immer näher. Die beiden Schiffsknechte getrauten sich kaum sich zu rühren, so sehr waren sie voller Angst. Das war auch ihr Glück. Es dauerte eine volle Stunde. Erst mit dem Glockenschlag "eins" verschwand das Gesicht wieder in den kalten Fluten. Als der Morgen dämmerte, kamen die geängstigten Schiffer wohlbehaltenin Schweinfurt an und erzählten dort ihr sonderbares Erlebnis.
Da berichteten ihnen alle Fischer: Zur Franzosenzeit, als die fremden Truppen auf Mainz marschierten und plünderten und raubten, was Wert hatte, ließ der Erzbischof von Mainz das Silberzeug
aus dem Dom in Kisten verpacken und auf Schiffe laden. Der kostbare Schatz sollte mainaufwärts gezogen und im Dom zu Bamberg verborgen werden. Kurz vor Bamberg versenkten aber versenkten zwei
habgierige Schiffsknechte einige der wertvollen Kisten im Main, um sie später für sich selbst zu holen. Bald darauf kamen die Franzosen auch an den oberen Main und sollen den einen jener
Schiffsknechte erwischt haben. Als er nicht sagen wollte, wo die Kisten des Mainzer Erzbischofs hingekommen seien, wurde er von den Soldaten getötet. Seitdem habe sich sein Gespenst nachts öfters
im Main den vorüberfahrenden Schiffern gezeigt und habe diese um Erlösung gebeten. Der andere Schiffsknecht habe als uralter Mann vor seinem Tode den Diebstahl gebeichtet. Danach sei von dem
Gesicht im Main nichts mehr gesehen worden.